Usch

Usch, die Samtene

„Es gibt Schauspieler, die haben eine solche Bühnenpräsenz, dass dem Zuschauer zuweilen der Atem stockt. Ursula Karusseit, die herbschöne Frau mit der prägenden Stimme, war so eine Schauspielerin“, las ich am 2. Februar 2019 in der Zeitung. Einen Tag nach ihrem überraschenden Tod.

Plötzlich war klar, dass „Usch2, wie sie von Freunden genannt werden durfte, ihren letzten öffentlichen Bühnenauftritt mit dem Programm „Texte und Lieder über Liebe und Tod“ mit mir zusammen hatte.

Vor unserem Lieder-Literatur-Abend in einer Mecklenburger Kirche haben wir uns mehrmals getroffen und oft telefoniert. Ihre Nummer auf dem Display sagte mir: Die Frau mit der Stimme aus Samt und Seide ruft an. Als das Programm stand, hatte sie plötzlich Sorge, das Publikum könnte nach unserem Abend vielleicht ein wenig „beladen“ aus der Kirche treten. Sie bat mich um weitere, mehr heitere Textvorschläge.

Lies doch mal den hier, sagte ich: „Die Hundertjährige“ von dem Schweizer Schriftsteller und Kabarettisten Franz Hohler. Es war kurz vor Mitternacht, wir saßen in der Veranda ihres Hauses bei Königs Wusterhausen. Sie las, nicht ahnend, wohin sie die Geschichte führen würde.

„In einem Schweizer Altersheim bekommt eine Jubilarin Besuch von zwei Herren. Der Stadtpräsident und der Altenheimdirektor gratulieren der Hundertjährigen mit einem üppigen Blumenstrauß und einer (ob ihrer Größe) auf einem Servierwagen ins Zimmer gerollten Torte zum Geburtstag. Die beiden Männer fragen die alte Dame, welches denn ihre schönste Erinnerung wäre. Die Alte lässt sich nicht zweimal bitten und erzählt von einem flotten Dreier mit zwei jüngeren Männern, sehr detailreich von einem Sex-Abenteuer. Die Gratulanten schauen betreten zu Boden, sie wollen die Hundertjährige stoppen, versuchen das Thema zu wechseln. Es klappt nicht. So hilft nur noch Flucht aus dem Zimmer.“

Als Usch während der Lektüre begriff, worauf die Geschichte hinausläuft, schaltete sie im Leseduktus auf griechische Tragödie, konnte aber ihr Lachen irgendwann nicht mehr unterdrücken. Ihre Tränen spritzten über den Tisch. Plötzlich grölten wir beide los.

Was für ein Gaudi, dieser Frau zuzuhören; keinerlei Routine, dafür die Lust am Entdecken, die Fähigkeit zur Kopfreise. Denn das ist es ja vielleicht, was begnadete Schauspieler können können, wenn sie können: Situationen durchleben, auch wenn sie vielleicht bei der Lektüre auf einem wackeligen Schemel mit knurrende Magen in einer abgeranzten Theatergarderobe sitzen.

Und was hat es mich gewütet, wenn diese Frau nach ihrem Tod in der Presse als Serienstar gepriesen wurde, ihre herausragenden Bühnenfiguren an Theatern, im Film, ihre Synchronarbeiten und Hörspielaufnahmen keine Erwähnung fanden. Auch ihr Engagement im und für das private „Theater am Rand“ von Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern nicht gewürdigt wurde.

Dazu schrieb der Journalist Frank Quilitzsch: „Dass die Karusseit zu den besten Darstellerinnen der letzten fünf Jahrzehnte gehörte, war nicht überall im deutschsprachigen Raum bekannt. Vielleicht weil sie um ihre Passion wenig Aufsehen machte.“

Die Ausnahmeschauspielerin mit der samtenen Stimme wäre am 2. August 80 Jahre alt geworden.

Ich werde mit einen samtenen Whisky besorgen, Usch, und für morgen bei mehreren Gläsern – eins für dich, eins für mich – an dich denken. 80 Gläser werde ich nicht ganz schaffen. Du fehlst eben. Und es werden dabei Tränen über den Tisch spritzen, Tränen der Freude, dich gekannt zu haben, Tränen der Trauer, dass du uns nicht noch mit einigen großen Frauenrollen bei der Schauspielkunst-Stange halten konntest.