Ich habe zur Nacht gesessen mit Gespenstern

Heiner Müller 1993 „Ich hab zur Nacht gesessen mit Gespenstern…“

„Für alle reicht es nicht“, Texte zum Kapitalismus, edition suhrkamp,
Herausgeber: Helen Müller, Clemens Pornschlegel

Am 9. Januar, meinem Geburtstag, nicht nur der Osten hat Humor, erreichte mich die Nachricht, dass in SPIEGEL TV meine Enttarnung als IM der Staatssicherheit bevorstünde. Die Akte sei, so wurde Stefan Aust zitiert, brisanter als die von Hermann Kant. Aus Neugier, sie gehört zu meinen Lastern, ging ich in die Spiegel-Falle. Was ich kannte, waren OFFENE BRIEFE eines Dieter Schulze, den ich für eine große neodadaistische Begabung hielt und halte, an 77 Redaktionen und an mich, mit dem Vorwurf, dass ich seine Ausweisung aus der DDR betrieben hätte. Richtig ist, dass Schulze der Staatssicherheit der DDR ein Dorn im blinden Auge war, bis zur Alternative Ausweisung oder Zuchthaus. … Ich hielt, in einem Gespräch im Ministerium für Kultur der DDR, von dem es offenbar ein Protokoll gibt, zusammen mit Franz Fühmann, der Schulze als ein zu schützendes Genie betrachtete, ein DDR-Zuchthaus nicht für eine Dichterakademie und, mit Fühmann, die Ausweisung für das kleinere Übel.

Ich verstehe gut, dass im neuen Deutschland ein Zuchthausaufenthalt in der DDR ein besserer Ausweis und ein besseres Sprungbrett ist als die gewöhnliche Ausweisung, wie brutal sie auch vollzogen wurde. …

Ich kann die Debatte nicht annehmen auf dem Niveau, auf dem sie angeboten wird, dem Niveau der Denunziation und der Verleumdung, es ist nicht mein Niveau. …

Wer von Schuld reden will, soll es tun, ich rede nicht von Unschuld, Unschuld ist Glücksfall und ein Privileg nicht nur in diesem Jahrhundert nicht nur in Deutschland, das ich für mich nicht beanspruchen kann, nicht privat und nicht politisch. …

Die Geschichtsschreibung der Sieger, die DDR-Geschichte und Geschichte der SU aus dem Weltzusammenhang reißt, in dem gesehen sie Erfahrung werden könnte, erzeugt den Schwefeldampf, ohne den der Christ nicht bereuen, seine Büßer-Rolle auf dem Theater der Aufklärung nicht spielen kann, wie es von der Gauckbehörde betrieben wird.

Das kommunistische Experiment im Osten Europas war die Unterbrechung eines Ablaufs, der, wenn aus der Geschichte und dem Scheitern dieser Unterbrechung nicht gelernt wird, unvermeidlich in die Katastrophe führt. …Die Prosa der Akten erinnert an das Verfahren von Kafka: Beschreibung von Details ohne Bezugssystem. Die deutsche Presse hat, in der Berichterstattung über Angelegenheit der Staatssicherheit, dieses Verfahren übernommen. …

Die FBI Agenten, die in Kalifornien an Brecht gearbeitet haben, wussten alles über ihn, nur nicht, wer er war. Sie hielten ihn für einen Nazi-Agenten.

Die moralische Attitüde meiner Ankläger, vom Kannibalismus der Medien abgesehen, verrät die Angst um den Stellenwert, der sein Marktwert ist, des schon lange nur noch sogenannten repräsentativen Intellektuellen.

Geheimdienste arbeiten an der Verwandlung von Biografien in Vorgänge, von Menschen in Akten, von Realität in Papier. …
Akten leben länger als Menschen, insofern sind sie Aktien auf die Ewigkeit.

Das gegen Marx behauptete Primat der Politik vor der Ökonomie, erzwungen durch das ökonomische Scheitern einer Alternative zum Kapitalismus, trieb die östlichen Geheimdienste in ihren rasenden Selbstlauf in der Falle eines Wahnsystems, zwischen Farce und Tragödie. Immerhin war in der DDR, aus geografischen und historischen Gründen, die Hemmschwelle des Terrors höher, standen zwischen Oder und Elbe mehr Feinde auf dem Papier, als in den Gefängnissen saßen…