Senegal

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Im Dezember 2003 gastierte ich mit Jean Pacalet auf Vermittlung des Goethe-Institutes und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afrika. Jean hatte als Kind 7 Jahre im Kongo verbracht. Ihm kam vieles bekannt, ja sogar vertraut vor, ich fühlte mich auf dem schwarzen Kontinent wie auf einem anderen Stern.

Reisebericht

Es war bereits dunkel, als die Boing 777 Kurs auf den Flughafen von Dakar nahm. Pacalet und ich waren die einzigen Bleichgesichter in der voll besetzten Maschine.

Willkommen im „bana-bana“- Erdnuss-Land, dem Senegal.

Erfährt man etwas über eine fremde Welt, wenn man sie vor dem Betreten erst einmal erriechen kann? Dieser Gedanke aus längst vergangenen Intershop-Zeiten überkam mich mit dem ersten Hauch Dakarer Luft: süßlichsauer, feucht, stickig, abgasschwanger. Von ozeanischer Brise keine Spur.

Im Empfangsgebäude des Flughafens unbeschreibliches Chaos! Menschen über Menschen. Eine Reisegruppe aus Dänemark, die mich an vom Oder-Hochwasser eingeschlossene Rinder erinnerte, Moslems auf Gebetsteppichen, Packpapierberge und Kartons, in denen Menschen schliefen, Gerüche aus der Hexenküche, ohrenbetäubender Lärm. Ich stand schweißüberströmt, vom Winter in den Sommer gekippt, auf unsicherem Terrain, hielt mir die Ohren zu und dachte an ein Bonmot von Enzensberger: „Der größte Luxus heute ist Stille“. Zahllose „hilfreiche Hände“ fassten nach unserem Gepäck, Taxivermittler erboten sich für Summen mit unendlich vielen Nullen, ein Auto zu beschaffen. Der Senegal gehört zur Westafrikanischen Währungsunion, Communauté Financiére Africaine. 655 CFA sind 1 Euro. Was Geld, oder – um genauer zu sein – kein Geld zu haben bedeutet, wurde mir erst später klar, als ich auf afrikanischen Märkten war und ausschließlich Münzen im Wert von 5 – 250 CFA ihre Besitzer wechseln sah. Alles, was ge- oder verkauft wurde, war weniger wert als ein halber Euro.

Als wir gegen 22.00 Uhr die Ankunftshalle des Flughafens betraten, warteten mehrere hundert Senegalesen auf Freunde, Bekannte, Touristengruppen. Ein Bild, wie aus einem Hollywoodschinken. Schilder mit Hotel- und Firmennamen, Reiseveranstaltern veitstanzten über schwarzen Köpfen.

Auch der mir angekündigte 2-Meter-Mann, Thioune, schwenkte sein Schild, während er nach zwei Weißhäuten mit Musikinstrumenten Ausschau hielt. Das wird das Foto des Jahres, dachte ich:
Ein Pappschild: „Goethe-Institut“ inmitten 400 Schwarzafrikanern… Ich zückte mein kleines Digitalmonster aus Jena. „JENOPTIK Camera – Europe GmbH!“ Hallo! Klick. Nichts da. Es versagte seinen Dienst, war einfach nicht schussbereit. Und so sollte es auch die ganze Reise über bleiben. Dabei hoffte ich, mit dem Erwerb dieser Kamera mindestens 1 1/2 Arbeitsplätze bei JENOPTIK in Thüringen über den Winter zu bringen.

Neben Thioune – ein Bilderbuchsenegalese – Haut wie Ebenholz, Zähne wie weiße Schaumkronen im Atlantik – steht Susanne, 23, Pädagogikstudentin, für 3 Monate Praktikantin beim Goethe-Institut Dakar.

„Hallo Susanne, wo kommst Du her“, frage ich. „Aus Jena“, sagt die junge Frau mit zwei Tage alter Rasterzopffrisur, äußeres Zeichen ihrer Afrikaverehrung.
„Aus Jena?“, ich musste lachen.
Thioune fuhr uns mit dem „Goethe“-Bus zum Hotel, im Autoradio Senegals Superstar Youssou N’Dour mit seinem neuesten Album „Nothing s in Vain“. Ich dachte an aufregende Bilder über die Autorallye Paris-Dakar, an im Wüstenstaub ertrinkende Autos. Die Stadt Dakar, wie sah sie aus? In diesen Reportagen sah man sie eigentlich nie.
Wir fuhren durch eine Landschaft, die vorgibt, Großstadt mit 2 Millionen Einwohnern zu sein. Die Scheinwerfer des Busses erfassen Wellblechhütten, Holzgerüste, Plastikbahnen, die die perspektivlose Lethargie der Dakarer Banlieue erahnen lassen. Die Menschen sitzen auf den Trottoirs zwischen ihrer Habe, Händler mit Plastikweihnachtsbäumen und irgendwelchem Tand stürzen sich auf jedes haltende Auto. Ein- bis zweistöckige graue Betonbauten, die mich an Bunker erinnern, rücken ins Bild. Die vorherrschende Farbe ist: farblos. Eine Werbewand zeigt ein fliegendes Handy am blauen Himmel. Ansonsten kaum Werbung.

Straßenmusiker in Dakar

Straßenmusiker in Dakar

Im Hotel erwartete uns der Direktor des Goethe Institutes, Herr K., ein sympathischer Kosmopolit mit (West) Berliner Background und langjährigen internationalen „Goethe“- Erfahrungen. Während ich mir die Winterklamotten vom Leib reiße und nach Mineralwasser lechze, klärt der Direktor auf: Dakar ist im Vergleich zu den meisten afrikanischen Metropolen eine fast sicher zu nennende Stadt. Aber trotzdem: Keine Wertsachen mit sich herumschleppen! Taschendiebe sind nicht selten! Auf der Straße keine Geschenke annehmen, Straßenhändler und Bettler „höflich“ ignorieren! Diese Verhaltensregel war in den darauf folgenden Tagen schwer anzuwenden. Wie soll man Bettlerscharen „höflich ignorieren“?

Das Fundament der senegalesischen Wirtschaft ist das „bana-bana“, sagte K., so nennt man hier Geschäfte des informellen Sektors, die sich jedem statistischen und fiskalischen Zugriff entziehen. Das „se débrouiller“ (sich durchwursteln) hat zementierte Strukturen im Senegal, die Sprengladung dagegen müsse erst noch erfunden werden.
Dabei geht es dem Land trotz immenser Auslandsschulden, rückläufiger Industrieproduktion und hoher Arbeitslosigkeit noch relativ überschaubar schlecht. Wir sollten uns vom ersten Augenschein Dakars nicht täuschen lassen, so der Institutsdirektor. Unbeschreiblicher Reichtum, Elend und Armut existieren in beinahe friedlicher Koexistenz.

„Komm Susanne, zeig mir Dakar bei Nacht“, sagte ich, nachdem sich der „Goethe“-Direktor verabschiedet hatte. Das hätte ich vielleicht nicht tun sollen, denn an Schlaf war nach diesem ersten Rundgang nicht mehr zu denken.
In mir war das Elend der Welt. Mir war hundeelend. Als wir wieder vorm Hotel standen, hielt uns eine Kinderschar (nachts um 1.00 Uhr) leere Tomatenpüree-Dosen unter die Nase: „Piéce, Piéce“ (Geldstück) riefen sie. „Nein, gib denen nichts“, sagte Susanne, „das sind Talibés, kleine Koranschüler, sie müssen jedes Geldstück, das sie bekommen, an die Marabous abliefern. Und außerdem können Kinder mit Betteln hier mehr verdienen, als ihre arbeitenden Eltern – so sie Arbeit haben. Das ist dann noch ein Grund mehr, sie nicht zur Schule zu schicken.“
85 % der Senegalesen bekennen sich zum Islam. Es gibt diverse muslimische Bruderschaften, deren Einfluss in Politik und Wirtschaft erheblich ist. Laut Verfassung ist der unabhängige Senegal natürlich ein laizistischer Staat.

Die junge Deutsche lief furchtlos, unbekümmert, fast möchte ich sagen heiter durch das nächtliche Dakar. Hier und da rief sie einen Namen, begrüßte Senegalesen in der Landessprache Wolof (Französisch ist die Amts- und Verkehrssprache) „Na nga def?“ (wie geht es dir) und wurde, „Mangiy fi“ (es geht gut) zurückgegrüßt.
„Ficht es Dich nicht an, das täglich sehen zu müssen?“, fragte ich sie und kannte die Antwort doch schon. „Ich habe mich für das unbezahlte Praktikum beim Goethe-Institut beworben, weil ich das alles sehen wollte. Die Zusammenhänge von Armut und Reichtum kann man nicht studieren“, sagt die Dreiundzwanzigjährige ein wenig zu abgeklärt für ihr Alter und wird mir dabei etwas unheimlich.

Auch der Direktor der deutschen „Friedrich-Ebert-Stiftung“ in Dakar kommt aus Thüringen. Er studierte in Leipzig Afrikanistik und gehört – geboren in den 60ern – zu jenen Ostdeutschen, für die sich die Mauer zum richtigen Zeitpunkt öffnete. Er lud am nächsten Tag zu einer Diskussionsrunde in die „Villa Ebert“ ein.
Die Villa, fast möchte man sagen Schlösschen, versteckt sich wie fast alle ansehnlichen Gebäude in Dakar hinter einer Mauer. Tritt man ein, hat man das Gefühl, in einem Musterkatalog des Garten Eden gelandet zu sein. Es blüht, es sprießt, es riecht, es grünt wie im Märchen.
Während ich noch darüber nachdachte, warum das Goethe-Institut, das dem Auswärtigen Amt in Deutschland untersteht, anscheinend schlechter ausgestattet ist, als eine parteinahe Stiftung, begrüßten mich ein paar Senegalesen in einwandfreiem Deutsch. Sie kannten meine alten Schallplatten, denn sie waren in den 80er Jahren in meinen Konzerten. Wie das? Sie hatten an der Karl-Marx-Universität Leipzig in der DDR studiert.

Als kleines Mädchen träumte ich davon, einmal bis ans Ende der Welt zu reisen. Das Ende der Welt, das war für mich Afrika. So weit weg, wie meine kindliche Phantasie reichte. Hatte ich diese Träume vergessen, hatte ich sie zu den Akten gelegt?
Als würde Zeit nicht vergehen, sondern stillstehen, fand ich mich im Dezember 2003 plötzlich in einer Gesprächsrunde, die zudem noch mir zu Ehren stattfand, inmitten freundlicher Menschen im Senegal wieder. Nur: zwischen dem Traum und seiner Verwirklichung lagen fast 50 Jahre. Die Wirklichkeit ist manchmal verdammt unwirklich.

Ich erfuhr von spannenden Lebens-ver-Läufen zwischen dem schwarzen Kontinent und Europa. Die Tochter deutscher Diplomaten, eine junge Frau, die im Senegal geboren wurde, beschrieb ihre Situation folgendermaßen: „In Afrika bin ich zu Hause und bleibe doch immer eine Fremde. In Deutschland bin ich nicht fremd, aber nicht zu Hause.“ Man könne sich beim Bleiben und beim Weggehen ver-laufen, sagte ein Senegalese, der in Deutschland aufwuchs und mit Mitte dreißig nach Afrika zurückkehrte.

Aber sicher wollt Ihr etwas über die Konzerte erfahren…
Das Dakarer Konzert von Jean Pacalet und mir fand im „Pencum Goethe“ statt.
Ein nüchterner Vortragsaal, jedoch mit Klimaanlage!!!, was beim Konzert aber wenig nützte, denn es galt zu entscheiden: Klimaanlage oder Musik. Beides gleichzeitig hätte sich gegeneinander aufgehoben. Es wäre glatt gelogen, wenn ich behauptete, nicht aufgeregt gewesen zu sein. Im Publikum gleich mehrere Botschafter, auch die Deutsche Botschafterin im Senegal, bei der ich mich – Schmunzeln im Publikum – noch zu bedanken hatte, denn ohne ihre Feuerwehraktion wäre ich überhaupt nicht nach Afrika gekommen.
Auf dem Pariser Flughafen wurde bei der Abfertigung festgestellt, dass mein Reisepass, den ich in den letzten Jahren kein einziges Mal an irgendeiner Grenze vorzeigen musste, seit Monaten abgelaufen war. Nach schweißtreibender Telefonaktion zwischen Europa und Afrika bürgte die Deutsche Botschafterin im Senegal für mich und ich durfte ohne gültige Papiere im letzten Moment doch noch einchecken.
(Wenn ich mich nur schlecht benommen hätte im Senegal, hätte sie die Brille aufgehabt, die Botschafterin. Ich sage das, weil ich natürlich sofort an die Berliner Bankbürgschaft, bzw. den Skandal der Bürgschaft denke…)

Dass ich mich abwenden musste, als ich vor dem Auftritt die teuren Botschafterkarossen mit livrierten, schwarzen Fahrern am Lenkrad und Standarten auf den Kotflügeln am Veranstaltungsort vorfahren sah, will ich nicht verschweigen.
Wie bitte? Wie das Konzert war? Wie es aufgenommen wurde?
Okay, beim anschließenden Empfang gab’s Elogen. Das mag der „Künstler“ natürlich gern. Wie aufrichtig die gemeint waren, kann ich nicht sagen.
Niemand wollte (und konnte) mich in der Programmgestaltung beeinflussen. Soll heißen: ich habe keine Kreide gefressen und auch die Songs gesungen, die meiner Botschafterin sichtlich nicht gepasst haben, denn in unterschiedlichen Flughöhen verändert sich das Deutschlandbild. Man weiß es.

Das Highlight der Reise

Die letzte Tür vor der "neuen Welt" - Abtransport der Sklaven

Die letzte Tür vor der „neuen Welt“ – Abtransport der Sklaven

Vor der Küste Senegals liegt die kleine Insel Gorée. Nur knapp 1 km lang und 300 Meter breit, ist die ehemalige Sklaveninsel in 30 Minuten mit der Schaluppe aus Dakar zu erreichen. Die Einladung auf die Insel kam von einem französischen Musiker, der auf der Insel lebt und es selbst für Senegalesen zu einem geachteten Djembe-Spieler gebracht hat.

Von Gorée aus mussten die Afrikaner ihren langen Weg in die Sklaverei antreten.

Fast 3 ½ Jahrhunderte war die Insel Spielball und Streitobjekt der europäischen Kolonialmächte. Vom unermesslichen Reichtum durch den Sklavenhandel künden heute noch Reste und Ruinen kolonialer Prunkbauten auf der Insel.

Im „Maison des Esclaves“, dem Sklavenmuseum, vermittelt der 65jährige Senegalese Alloune täglich tausenden Touristen die Geschichte seiner Vorfahren. Er beendet seine Führungen immer mit dem gleichen Satz: „Wir können nicht vergessen, aber verzeihen.“

Denkmal auf der Sklaveninsel Gorée

Denkmal auf der Sklaveninsel Gorée

Die Touristen sind beeindruckt. Und dann streckt Alloune seine Hand aus und nennt einen Preis, der je nach Herkunft der Touristen variiert. Zum Beispiel zahlen Japaner mehr als Deutsche. Warum weiß keiner zu sagen. Täglich kommen 10 Schaluppen mit Touristengruppen auf die Insel. Aber länger als 1 oder 2 Stunden hält sich kein Tourist auf Gorée auf. In dieser Zeit wird er von den Inselbewohnern quasi überfallen und pausenlos genötigt, irgendetwas zu kaufen.

Auf der Insel leben nicht einmal 1.000 Menschen. Einige wenige sind reich und wohnen abgeschottet vor unwillkommenen Blicken hinter dicken Mauern in prächtigen Villen mit Meeresblick. Die Mehrzahl der Inselbewohner ist arm und lebt in Verhältnissen, die erbärmlich zu nennen, untertrieben ist. Ganz arm aber sind einige Hundert Obdachlose, die in den Ruinen ihrer ehemaligen Peiniger, der Kolonialisten und Sklavenhalter ohne Kanalisation und Elektrizität menschenunwürdig hausen, zu meinem Erstaunen jedoch überhaupt nicht unglücklich wirkten. Beim ersten Rundgang über die Insel war ich entsetzt über zahllose wilde Müllhalden, stinkende Zeitbomben zwischen Felsklippen im Meer. Das Abwasser der Insel wird ins Meer geleitet, kommt man in abgelegene Ecken, riecht es so stark nach Ammoniak, das man das Gefühl hat, in einer Latrinenlandschaft der Schlacht um Verdun zu stehen.
Auf der „Place du Gouvernement“, dem Dorfanger, wo sich täglich die Jugendlichen in Shirts ihrer Fußballlieblinge „EL DIOUF“ und „PAPE BOUBA DIOP“ um einen Ball prügeln, sprach mich eine 27jährige Senegalesin an. Ich wollte erst weitergehen, hatte Panik, nein, nein, nicht schon wieder etwas kaufen müssen, aber Mariama, so heißt die Frau, sagte nur, dass ihr mein Kleid gefalle. Sie saß täglich am selben Platz, hatte vor sich eine Decke mit Ketten, Muscheln für Touristen zum Kauf ausgebreitet.

auf dem Markt von Gorée

auf dem Markt von Gorée

Den 4 Monate alten Säugling in einem Tuch auf den Rücken gebunden, ihre drei anderen Kinder immer im Blick, beantwortete sie mir jede Frage. „Warum“, fragte ich sie, „tragen afrikanische Frauen ihre Säuglinge auf dem Rücken? Als Mutter braucht man doch Blickkontakt mit seinem Kind“. „Das denkt Ihr“, sagte Mariama, „ich spüre alles, jede Bewegung meines Babys, das kleinste Zucken sagt mir, wie es ihm geht. Selbst wenn sich ein Insekt auf seinen Kopf setzt spüre ich das an seinem Atmen. Mein Kind signalisiert mir Gefahr durch seinen Körper.“
Mariama wurde auf Gorée geboren und ist – sie erklärt es stolz – sogar 4 Jahre zur Schule gegangen. Ihr Mann ist meistens im Hafen von Dakar und wartet auf Gelegenheitsarbeit. Drei Frauen hat er, sie ist die Dritte und versteht sich nicht gut mit den anderen beiden. Zusammen haben sie 12 Kinder. Die Großfamilie lebt in einem Raum in den ehemaligen Stallungen des Gouverneurspalastes, hat 3 magere Ziegen, die, an einen der mächtigen Baobab-Bäume gebunden, in Ermangelung von Grünfutter mit Vorliebe Pappkartons fressen.

Obdachlosenwohnungen in den ehemaligen kolonialen Prunkbauten auf Gorée

Obdachlosenwohnungen in den ehemaligen kolonialen Prunkbauten auf Gorée

Was sie denn mit dem Geld mache, das sie von den Touristen bekäme, wollte ich wissen. Sie zögerte mit der Antwort, sagte dann aber, dass sie damit in Dakar auf einem der (gegen Fremdeinflüsse resistenten) Märkte für ihren Mann Aphrodisiaka kauft. Viele Kinder zu haben, das sei echter Reichtum.

Ich habe sie gefragt, was sie – wenn sie es könnte – an ihrem Leben ändern würde. „Nichts“, sagte sie und lächelte mich an. Viele Frauen ihres Alters auf der Insel hätten gar keinen Mann und auch gar keine Familie, die für sie einstehen würde.
Sie bestätigte mir, dass die wichtigste soziale Einheit im Senegal nach wie vor die patriarchalische Großfamilie ist. Der Verwandtschaftsbegriff wird sehr weit gefasst. Alle, die irgendwie mit einer Sippe zu tun haben, sind Brüder und Schwestern.

Ich war beeindruckt von Mariamas Würde. Wenn wir miteinander sprachen, hat sie mich manchmal berührt. Zärtlich, neugierig, als wäre ich ein fremdes Tier. Sie wollte nicht wissen vorher ich komme, dafür aber, ob ich ihre Kinder schön finde. Vor meiner Abreise habe ich ihr mein Kleid geschenkt. Sie hat mich umarmt und gesagt: „Wir sehen uns wieder, ich weiß es.“

Auf Gorée gibt es eine Mosche und aus der Kolonialzeit die katholische Pfarrkirche „St. Charles Borromée“, ein klassizistischer Bau, der erst 1829 fertig gestellt wurde. Schnell hatte sich auf der kleinen Insel herumgesprochen, dass ein Franzose mit einem eigenartigen Instrument – Akkordeonmusik scheint eine sehr exotische Angelegenheit für Afrikaner zu sein – und eine Deutsche, die französisch singt, auf der Insel waren. Der Pfarrer fragte uns, ob wir Lust hätten, am 24. Dezember beim Krippenspiel in der Kirche mitzumachen. Ihm fehle noch Musik für sein Stück: „5 Szenen über Jesus Geburt“, in dem zu meinem Erstaunen auch der Besuch des Papstes 1992 auf der Insel eine Rolle spielte.

Am heiligen Abend war die Kirche um 23.00 Uhr voller festlich gekleideter Menschen. Ich hatte keine Ahnung, wo die alle herkamen? Aber sicher waren sie diejenigen, die hinter den dicken Mauern in Häusern mit Meeresblick wohnten. Auf der Insel hatte ich sie jedenfalls vorher noch nie gesehen.

30 Kinder im Alter zwischen 6 und 17 hatten sich als Hirten, Abraham, Engel, Maria und Josef verkleidet und sahen bei jedem Auftritt zu Jean Pacalet, der Musik zu ihren Szenen spielte. Der Pfarrer stand im weißen Talar vorm Altar und proklamierte seine gereimten Verse mit weit ausladenden Gesten wie ein Knattermime, während die Kinder sie pantomimisch (entzückend unbeholfen) darzustellen versuchten. Dazwischen durfte ich ab und an ein Lied singen. Mein Blick fiel auf eine Holzstatue der Heiligen Jungfrau, die als Afrikanerin, d.h. als Schwarze dargestellt war. Noch nie hatte ich so etwas gesehen, eine schwarze Jungfrau Maria.
In der zweiten Szene des Krippenspiels kam ein kleines Mädchen als Hirte verkleidet hinter dem Altar hervor und rief „Hört, die Jungfrau ist schwanger“. Und dann kam die 17jährige Darstellerin der tieckholzschwarzen Marie und rief: „Wie ist es möglich schwanger zu sein, ohne einen Mann zu kennen?“ Hinter dem Altar kicherten die Hirten.
Im 5. Bild war Jesus geboren und die bekannte Bibelgeschichte zu Ende. Aber Francois, der senegalesische Priester, hatte noch eine „Moral von der Geschicht“ vorbereitet:
Drei junge Inselschönheiten zwischen 14 und 17 kamen barfuss, taumelnd, hinter dem Altar hervorgewankt. Um Beine und Arme hatten sie farbige Buntpapierketten gewickelt. Sie streckten ihre Arme in die Luft, zerrissen die „Ketten“, schwankten und ließen sich schließlich – eine nach der anderen – kichernd auf den Kirchenboden fallen. Währenddessen sprach der Pfarrer von der Insel Gorée als Symbol für den
Kampf zwischen Gut und Böse und dass Gott das Gute im Menschen habe gewinnen lassen. Er streckte die Arme in die Höhe und rief: „Brüder und Schwestern! Wir vergessen Euch nicht! Aber wir verzeihen.“
Die drei „Mädchen-Sklaven“ krochen davon und ließen ihre Buntpapierketten auf dem Kirchenboden zurück. Unruhe im Publikum, es schmunzelte.
Dann kamen alle Darsteller hinter dem Altar hervor gekrochen, Francois gab mir mit ausladender Geste ein Zeichen, sing, sing…und ich sang:

Erhöret die Gebete
Und lasst mal die Rakete
Vorerst im Silo ruh’n
Bewässert mit den Geldern
Die Hirse auf den Feldern
Ihr könnt was gegen Armut tun…

Französische Freunde sagten mir vor dieser Reise: Wenn du auf die Insel Gorée fährst, musst du etwas für die Kinder mitnehmen. Es gibt mehr Kinder auf der Insel als Erwachsene. Vor allem für die Kinder der Squatts Buntstifte, Kreide, Bonbons, soviel du mitbringen kannst.

So setzte ich mich eines Tages neben Mariama, die skeptisch guckte, auf den Marktplatz, um Weihnachtsmann zu spielen.
Sofort war ich von einer Kinderschar umringt. „Ihr kriegt alle was ab, stellt Euch an“, bat ich vergeblich. Die Kinder waren unersättlich, keines gönnte dem anderen auch nur ein Bonbon, sie rafften, was sie sie greifen konnten, kreischten, schlugen sich, hielten meine Hände fest, zerfetzten mir die Klamotten, zerkratzten mir die Arme. Einige Mütter kamen, jedoch nicht, um mir zu helfen. Sie stießen ihre Kinder in den Dreck, um selbst Bonbons zu ergattern.
Ich rannte in Panik davon. Hinter mir her eine brüllende Kindermeute: „Madame Bonbon, Madame Bonbon“. Am nächsten Tag lagen Buntstifte und Kreide (die sie zu essen versuchten) und auch das Bonbonpapier überall verstreut herum.

Als ich am Abend meine Wunden kühlte, kam Philip, Franzose, Arzt, in Dakar geboren und auf Gorée als Besitzer der schönsten Herberge der Insel, “ Hostellerie du Chevalier de Boufflers“, hängen geblieben. Er lachte, stellte eine Flasche Wein auf den Tisch und prostete mir zu. „Ja, sicher, ist eine harte Erfahrung.
Sieh es als Allegorie. Afrika zu lieben, ist nicht ganz einfach. Hier sind andere Dinge vonnöten, als ein paar Nettig- oder Süßigkeiten.“

Barbara Thalheim