Guinée est une famille – 2010

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guinea_img_0Um 19.00 Uhr knipst Gott das Licht aus in Guinea. Gerade hing die Sonne noch als roter Ball über dem Ozean, da ist sie schon verschwunden und es ist Nacht. Auch in der Hauptstadt Conakry. Nur einige wenige Viertel der Millionenmetropole an der Westküste Afrikas verfügen wie das Botschaftsviertel oder der Flughafen über elektrisches Licht. Leitungen sind fast überall zu sehen. Aber der ins Netz eingespeiste Strom reicht nicht annähernd für alle. Türme gebrauchter Kühlschränke und Elektrogeräte warten am Straßenrand auf Käufer. Einst trug Conakry den Beinamen „Paris Westafrikas“. Das ist lange her. So wie die koloniale Unterwerfung Guineas durch Frankreich lange her ist.

Als erste der französischen Kolonien erhielt Guinea 1958 seine Unabhängigkeit zurück. Heute zählt das Land zu den fünfzehn ärmsten der Welt. Die Wirtschaft gilt als hochgradig korrupt. Dabei ist Guinea reich an Bodenschätzen. Es gibt Gold, Diamanten, Eisenerz und riesige Bauxitvorkommen (Basis zur Herstellung „unserer“ Bierdosen). Aufgrund des günstigen Klimas wären drei Ernten im Jahr möglich. Aber noch immer wird Reis importiert. Guinea?, sagen meine Freunde, da fährt man doch nicht hin. Auch das Auswärtige Amt in Deutschland warnt vor Reisen nach Guinea.
Der Airbus aus Paris steuert gegen 21.00 Uhr den Flughafen Gbessià in Conakry an. Ich suche vom Flugzeug aus nach dem Lichtermeer einer Großstadt, paradiesisch gelegen auf einer nur wenige Quadratkilometer großen Landzunge, die tief in den Ozean hineinreicht. Eine Hauptstadt, vom Meer umgeben! Aber erst, als das Flugzeug aufsetzt, sieht man einige beleuchtete Gebäude. Der Pilot sagt: wir haben 29 Grad und 89 Prozent Luftfeuchtigkeit. Ich bin winterlich gekleidet. Als mein Wecker um 4.00 Uhr früh in Berlin klingelte, zeigte das Thermometer minus 16 Grad.

Im heillosen Durcheinander Wartender, Ankommender, Abreisender, auf Jobs Hoffender unter freundlich bis desinteressierter Observation einiger bewaffneter Militärs, erwartet mich BEBE, eine Guineerin, wie sie typischer kaum sein kann. BEBE heißt eigentlich Djenab Sajon Diakité, ist 50 Jahre alt und ihrer Statur nach ein Genussmensch, mit lautem Organ und wachen Geschäfts-Instinkten.

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Die hat sie in ihrer Zeit als Empfangsdame im „Grand Hotel de l’Independance“ in Conakry entwickelt. BEBE hat keine Kinder. Nach zwei Ehejahren verließ sie ihr Mann, deshalb! Nach islamischem Recht haben Männer gegenüber kinderlos gebliebenen Ehefrauen keinerlei Verpflichtungen. Dass Kinderlosigkeit auch vom Mann ausgehen kann, kommt hier niemandem in den Sinn. Sich als allein stehende Frau im islamischen Guinea ein unabhängiges Leben aufzubauen, ist auch heute eher ungewöhnlich. „Der Mann sorgt für den Reis, die Frau für die Soße“, heißt es hier. BEBE sorgt allein für beides und hat es in den gehobenen Mittelstand geschafft.

Die Hitze wird unerträglich. Die Klamotten kleben am Körper, ich suche im heillosen Durcheinander des unwirtlichen Flughafengebäudes nach einem Klo. Wasser, Wasser! Gegen alle Warnungen würde ich es jetzt trinken. Aber mit dem Wasser verhält es sich genauso wie mit dem Strom. Es gibt Wasserleitungen – zumal auf dem Flughafen – aber es gibt kein Wasser. Die Prozedur der Einreiseformalitäten, Zollerklärung etc. ist eine Farce, mein Impfpass – Einreisebedingung – wird von dem Kontrolleur verkehrt herum gehalten. Immer wieder schlüpfen Reisende, von irgendwelchen Wichtigtuern begleitet, unkontrolliert an den Wartenden vorbei. Dann endlich der erste Schritt ins Freie. Der afrikanische Himmel lässt wie zur Begrüßung die Sterne funkeln. Großer Bär, kleiner Bär, Polarstern stehen irgendwie auf dem Kopf. Doch es beruhigt, dass mir überhaupt etwas „bekannt“ vorkommt in nachtschwarzer Fremde bei tropischen Temperaturen auf dem schwarzen Kontinent.

Dem Flughafen gegenüber liegt ein hoch eingezäunter leerer Parkplatz. Wahrscheinlich für VIPs und Staatsbesuche. Aber nach Guinea hat sich seit langem kein ausländischer Staatsgast mehr verirrt. Menschen überwanden den Zaun, um im Flutlicht funktionierender Bogenlampen Bücher zu lesen. Wir fahren mit BEBEs klapprigem Subaru in ihr Haus nach Yattaya, einem Vorort von Conakry. Die Fahrt dauert eine Stunde und kommt mir nach der langen Reise noch einmal wie eine Ewigkeit vor. Der Verkehr auf den Straßen ist chaotisch.

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Zu viele Autos für zu schmale, zu schlecht asphaltierte Straßen. Autos, von denen – gäbe es hier einen TÜV – 90 Prozent aus dem Verkehr gezogen werden müssten. guinea_img_7Im Scheinwerferlicht des Subaru tauchen kleine Bretterbuden, Marktstände, Menschen auf, die ihren Geschäften nachgehen, das Auto fährt im Schritttempo durch Menschenmassen, es wird gehupt, gerufen, Waren werden angepriesen, wie vor einem großen Fußballmatch, Hütten, flache Häuser, Ruinen, keine monumentalen Bauten, wie ich sie erwartete, rücken ins Blickfeld. Von 1958 bis 1984 war Guinea unter seinem Präsidenten Sékou Touré zumindest der Idee nach ein sozialistisches Land. Es gab enge Kontakte zur Sowjetunion, zu Kuba.

Auch 58. Mitglied der UNO wurde Guinea in den 50er Jahren. Große Künstler, wie die 2008 verstorbene südafrikanische Sängerin Miriam Makeba aus Johannesburg, wählten Guinea als Exilland. Salif Keita aus Mali, einer der bekanntesten Singer-Songwriter Afrikas, erhielt 1977 von Sékou Touré den großen Staatsorden. Ob Makeba und Keita erfuhren, dass der Hoffnungsträger Touré zum gefürchteten Diktator wurde? Das Erbe seiner Amtszeit sind fast 50.000 Tote, darunter Dichter, Musiker, Sänger, wie der Begründer des „Ballets Africains“ Keita Fodéba und etwa zwei Millionen Guineer im Exil. In 26 Jahren Sékou Touré-Herrschaft und anschließenden 24 Jahren Lansana Conté-Herrschaft – er starb im Dezember 2008 – kamen Wirtschaft und Infrastruktur Guineas praktisch völlig zum Erliegen. Die Frage, ob sich das schöne Land an der Ostküste Afrikas je von der Misswirtschaft und Korruption der letzten 50 Jahre erholen können wird, wollte, konnte mir keiner dort beantworten. Überhaupt waren die meisten Menschen in Bezug auf ihre jeweiligen politischen Führungen erstaunlich gelassen.

guinea_img_11Wir fahren durch die stockdunkle Hauptstadt. Der Schweiß läuft, der Fahrtwind kühlt ein wenig. Fremde Gerüche dringen ins Auto. An Straßenrändern überall kleine Feuerstellen, auf denen Frauen kochen. Männer in knöchellangen Gewändern, dem Boubou, Kinder, Schafe, Ziegen, streunende Hunde, Hühner, ein magerer Ochse an ein Schrottauto angebunden zwischen knatternden Mopeds und „Allah-Cabons“, wie die Fahrzeuge genannt werden, die hier Fahrgäste mitnehmen. Das Leben erwacht, nimmt Fahrt auf in der Kühle der Nacht. Der Dunkelheit trotzen ganze Heerscharen von plötzlich im Scheinwerfer auftauchenden Wasserverkäufern. Wasser in winzigen Plastiktüten, zu Eis gefroren zum kurzzeitigen Kühlen der verderblichen Esswaren in den Hütten und Häusern, wenn es aufgetaut ist, wird es getrunken. Alles findet hier öffentlich statt, bis auf das Intimste, was Menschen miteinander tun, ist alles einsehbar, schau-gestellt. Die Kochstellen werden mit Grillkohle oder Holz bestückt, auf roter afrikanischer Erde dampft, brodelt, zischt es wie aus tausend Hexenküchen. Guinée est une famille lese ich auf einigen T-Shirts. Jedes zweite Auto hat eine Staatsflagge am Rückspiegel, obwohl mit dem Staat kein Staat mehr zu machen ist.

Fast alles Manuelle wird hier bodennah verrichtet, auch das Essen. Tischverkäufer haben in dieser Kultur kaum eine Chance. Dafür (so scheint es) umso mehr Schlafzimmerverkäufer, riesige Ehebetten in schleiflackrosa und grün mit eingebauten Spiegeln an Kopf und Fußende stehen zum Verkauf am Straßenrand. Wer braucht hier, wer braucht überhaupt solche Betten? Müllhalden auf jedem freien Meter Erde, der nicht bewohnt, bewirtschaftet wird. Die Wegwerfgesellschaft, hier nicht wie bei uns kaschiert, verpackt, sortiert, hat auch in Afrika Einzug gehalten. Unglaubliche Halden voller Dreck. Nur ein einziges Mal sah ich ein Müllauto und Müllarbeiter bei der Arbeit.

guinea_img_10BEBE kauft vom Auto aus ein. Man muss nur anhalten und laut rufen, was man will. Sie ruft es auf Malinke, sie ist eine Malinke, spricht aber auch ein wenig Sussu. Es gibt acht Nationalsprachen in Guinea, Französisch ist die Amtssprache. Ich habe nicht wenige Leute, vor allem Frauen kennen gelernt, die die Amtssprache gar nicht sprechen.

Die Händler kommen angerannt. Brot, Mineralwasser in großen Plastikflaschen, das nach der Stadt „Coya“, in der es produziert wird, benannt ist, für die Deutsche, BEBE trinkt jedes Wasser. Ihr Magen kann das ab. Brot, Palmsamen, Maniok, Erdnüsse, Ingwer, Avocados, frittierte Bananenchips, saftige große Mangos, Grillkohle und Sachen, die ich nicht kenne, aber staunend in Empfang nehmen darf, werden vom Auto aus erfeilscht. Kaufen kann man dazu nicht sagen, denn praktisch hat keine Ware einen festen Preis, er wird bei jedem Kauf verhandelt. Das braucht Zeit und wenn man sich geeinigt hat, ist jeder Straßenverkäufer „mon frère“, jede Straßenverkäuferin „ma soeur“ (mein Bruder, meine Schwester). In einer Plastiktüte bewahrt BEBE ihr Geld auf. Mit handelsüblichen Portemonnaies kommt man hier nicht weit. 1 Euro = ca. 6.200 FG (Franc Guinéen), Kleingeld gibt es, aber es hat praktisch keinen Wert. Für sechs große Flaschen Mineralwasser muss man 18.600 FG hinblättern. Die passen zusammengerollt mal grad in eine Hand. Auf den Geldscheinen sind Frauenporträts und -masken, ein Staudamm, Traktoren und Erntemaschinen für die Feldarbeit abgebildet, Symbole gut gemeinter, doch total misslungener Landwirtschaftskollektivierung in den 60er Jahren. Wo es kein Benzin gibt, nutzen auch keine Traktoren.

Wir biegen ab. Hier beginnt Yattaya. Jetzt bräuchte man eigentlich einen Geländewagen oder besser ein Flugzeug. In der Regenzeit ist diese Strecke unpassierbar. Ich hänge mich in die Haltegriffe des Subaru und fürchte um meine Bandscheiben. Es folgt ein Rallye-Cross der höchsten Schwierigkeitsstufe. Das Auto hopst, fällt, kippt und stöhnt durch Löcher über Gesteinsbrocken, steht mal hochkant, liegt mal auf der Seite. Am Wegrand sitzen Familien im Kerzenlicht, die bunten Kleider der Guineerinnen, die sich unglaublich phantasievoll zu kleiden wissen, geben farbliche Orientierung in der Schwärze der Nacht. Man erkennt keine Gesichter, nur Gestalten. Menschen hocken auf kleinen Schemeln und reden. Hier gibt es im Überfluss, was uns abhanden kam: Zeit. Die Leute grüßen BEBE, rufen ihr etwas zu. Nein, es gab keinen Strom heute. Wie auch gestern schon nicht. Und wenn er für wenige Stunden kommt, ist er so „dreckig“ (d.h. spannungsschwankend), dass er elektrische Geräte kaputt macht, sagt BEBE. Und so hat sie beschlossen, selber für ihren Strom zu sorgen. Sie hat einen Generator angeschafft. Das Benzin dafür zu besorgen, ist mitunter schwierig, aber man hat so seine Verbindungen. Denn für alles, was es nicht gibt, gibt es einen florierenden Schwarzmarkt. Die Scheinwerfer beleuchten eine rostrote Mauer. Da sind wir, sagt BEBE. Das Tor wird von Lammyn, einem 17jähriger Schüler, der Tante BEBE’s „Hausmeister“ ist, weil sie ihm das Schulgeld bezahlt, von innen geöffnet. Für den Besuch aus Europa, für mich!, wird der Generator angeschmissen. Sie möchte ihr kleines Haus, das sie erst vor kurzem bezog, für den Gast ins rechte Licht setzen. Schon kommen die Nachbarn in Scharen, um sich bei Tante BEBE die Handys aufzuladen. Als alle Steckdosen besetzt sind, wirft sie die nachrückende Meute hinaus. Aicha, die Nachbarin, Tennée, die Kunststudentin mit ihrem einjährigen Sohn Obama, Bema, Fatoumata, Mohamed, Massaba, Ahmed und Kinder sagen mir Guten Abend. Ich betrachte die schwarzen Menschen, die mir alle makellos schön vorkommen.

guinea_img_15Wie im Theater. Vorhang auf. Wir sitzen im Halbkreis in BEBEs Hof. Sie hat das gefrorene Wasser in eine Kühlbox, in der noch Töpfe mit Essensresten vom Mittag aufbewahrt sind, neben sich versenkt. BEBE’s rechte Hand, mehrfach goldberingt – Statussymbol – greift in den Topf mit dem Reis, verknetet ihn mit roter, fettiger Soße aus einem anderen Topf und kleinen Fleischknöchelchen zu mundgerechten Happen.

Ihr Mund öffnet sich. Welch ein prächtiges Gebiss, 32 schneeweiße Matterhörner. Die rote Zunge tanzt in freudiger Erwartung wie ein Derwisch auf und ab. Ob ich auch etwas möchte. Nein, danke. Ich bin verwirrt, mag nicht sagen, dass es mich fast aushebt. Die Nachbarn, sicher auch solche, die nichts zu essen hatten heute, bekommen kleine Portionen in Plastiktütchen abgefüllt zum Mitnehmen. Die Kinder „dürfen“ betteln und bekommen sofort etwas.
BEBE isst, telefoniert, trinkt, erzählt, kommandiert Lammyn herum, der ihr aus einem Wasserbottich, der den ganzen Tag abgedeckt im Sonnenlicht steht, Trinknachschub schöpft. Ich beobachte. Jede Minute klingelt ein anderes Handy. Was für ein seltsam-verschlüsselter Ort, was für eine fremde Form des Überflusses. Nichts Fassliches, nur so ein Gefühl. Es gibt keinen Strom, kein Wasser, kein Benzin, es herrschen Inflation, Arbeitslosigkeit, 80 Prozent der unter 20Jährigen wollen das Land verlassen… aber: Alle 500 Meter steht ein funkelnagelneuer Sendemast für guten Handyempfang. Jeder, aber auch jeder Guineer, den ich kennen lernte, hatte ein Handy oder mehrere.

Die Anordnung der Bauten in Yattaya wirkt planlos. Straßen, Straßennamen, Hausnummern, Briefkästen gibt es nicht. Bekommt man einen Brief, wird man vom Postamt angerufen. Auf dem Handy! Die Häuser und Hütten sind aus „sonnengebrannten“ Betonsteinen gebaut. Dazu wird Zement, Kies und Wasser vermischt, in Formen gegossen, bis es ausgehärtet ist.

guinea_img_18Das Haus von BEBE unterscheidet sich von den meisten Häusern der Gegend, denn es ist gestrichen. Es gibt Blumenrabatten, eine gepflegte Hecke um die blickdichte Mauer des Grundstücks und einen schönen Hibiskusbaum im kleinen Innenhof, eine geflieste Küche unter freiem Himmel, mit Feuerstellen zu ebener Erde, für die Germaine, die die Hausarbeit verrichtet, verantwortlich ist.

BEBE bietet mir ihr Bett an – rosa Schleiflack mit eingelassenen Spiegeln am Kopfende – und schläft selber auf dem Sofa. Ich bin gerührt und auch richtig froh, dass ich nicht – wie angenommen – auf der Erde schlafen werde.

guinea_img_22Ich schlafe schlecht in dieser ersten Nacht, die feuchte Hitze, die Mücken, der Durst. Um 4.00 Uhr krächzt der Hahn, um 6.00 Uhr rufen die Moscheen zum Gebet.
Die in unmittelbarer Nähe sieht so aus: Die schönste und größte in der Stadt Conakry, Faical-Moschee, so. Guten Morgen Afrika! Die Sonne scheint. BEBE sitzt vor ihrem Haus, telefoniert, organisiert, in der Hand ein dickes Stück Salami, die ich aus Berlin mitbrachte. Ich sage: das ist Schweinefleisch! Sie lacht und flüstert verschämt, „er“ sieht es nicht, es schmeckt doch so! Eine Hochzeit steht an.

guinea_img_23Eine afrikanische Hochzeit, das bedeutet, BEBE’s diplomatisches Geschickt ist gefragt. Die Braut, Fatoumata, ist 34 Jahre alt und arbeitet in einem Zementwerk als Buchhalterin. Sie heiratet einen Neffen von BEBE. Aber die jeweiligen Familienoberhäupter liegen noch im Clinch miteinander. An meinem ersten Afrika-Tag wird bis tief in die Nacht diskutiert, telefoniert, geweint. Irgendwann ruft die Braut – der zukünftige Bräutigam hält seinen Kopf in den Händen und sitzt stumm daneben – jedes einzelne Familienmitglied der Gegenseite persönlich an. Das Wort PARDON erklingt wie ein Dauerton. Noch nie habe ich einen Menschen innerhalb einer vergleichbaren Zeit so oft das Wort Verzeihung sagen hören. Dann steht dem Vollzug der Hochzeit nichts mehr im Wege.

Fatoumata ist für afrikanische Verhältnisse eigentlich schon zu alt für die Ehe. Sie erzählt, dass ihr Vater zehn Häuser in Conakry hat, eines davon wird sie nach ihrer Hochzeit mit ihrem Mann bewohnen. Und das wäre für die Familie ihres Mannes, die arm ist, auch das Problem, dass er in bessere Kreise heiratet.guinea_img_24
Fatoumata und ihr zukünftiger Mann haben sich im Taxi, das hier – auch wenn es besetzt ist – immer Fahrgäste mit nimmt, kennen gelernt. Sie fand ihn sofort sehr anziehend. Er hat sie gar nicht bemerkt. Aber, sagt sie, hier darf eine ledige Frau niemals einen Mann ansprechen, das hätte mich sofort für eine ernsthafte Beziehung disqualifiziert.

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So blieb sie im Taxi sitzen, fuhr mit ihm hin, wo sie gar nicht hin wollte, stieg mit ihm aus und sah dabei offensichtlich so verloren aus, dass er sie ansprach. Mohamed arbeitet in einer Goldmine bei Faranah, 600 km von Conakry entfernt und verdient gutes Geld. Eine Fernehe – sie in Conakry, er in Faranah, undenkbar in Guinea. So wird sie ihre Arbeit aufgeben und zu ihm ziehen. Die Hochzeit beginnt vormittags bei den Brauteltern. Zumindest lässt mich Fatoumata in dem Glauben, wir wären bei ihren Eltern. Es kommen an die hundert festlich gekleidete Menschen. Ich darf in das Allerheiligste, das Brautzimmer. Acht Frauen sitzen im kleinen Raum um das Bett der Braut herum auf dem Boden und bereiten eine Delikatesse zu: Couscous mit einer Art Sauermilch und Zucker. Ich soll probieren. guinea_img_29Mir dreht sich der Magen um, aber ich probiere und lächle standhaft. Im Garten und auf der Terrasse sitzen Männer und Frauen voneinander getrennt, unterhalten sich und essen. Es gibt Unmengen Essen, das in großen Kesseln auf offenen Feuerstellen von Frauen zubereitet wurde.

Die Männer beider Familien begeben sich in den Salon des geräumigen, geschmackvoll eingerichteten Hauses. Auf dem Boden werden in Packpapier eingeschnürte Kola-Nüsse, an die Geldscheine gebunden sind, ausgebreitet und unter gleichförmigem Singsang hin und her geschoben.

guinea_img_30Der in Zentralafrika beheimatete Kola-Baum mit den Wirkstoffen Koffein und Theobromin, wurde ursprünglich zur Herstellung von Coca-Cola verwendet. Die Kolanuss, der Samen des Baums, ist ein seit Jahrhunderten gängiges Genussmittel in Afrika. Sie hat aber auch eine kulturelle Bedeutung als Symbol der Gastfreundschaft.

Gemeinsames Konsumieren von Kolanüssen ist wie das Friedenspfeiferauchen in indianischen Kulturen. Ich – die einzige Weiße auf dem Fest – errege keinen Anstoß, als ich die Zeremonie filme. Irgendwann wird die Braut in ein weißes Tuch eingehüllt und auf dem Rücken eines männlichen Familienmitglieds in ein gegenüberliegendes Wohnhaus zu Nachbarn getragen, wo sie in den Schoss einer Frau gebettet wird.

guinea_img_31Alle weiblichen Hochzeitsgäste folgen ihr singend, tanzend, klatschend, Gebete ausrufend, in die alle einstimmen. Der Raum heizt sich auf durch die tanzenden Frauenkörper, Kondenswasser läuft an den Wänden herunter. Ich will verstehen, verstehe nichts. Die Frauen sind wie in Trance. Ich ziehe mich, nein, es zieht mich zurück. Der Abend klingt in einer Bar aus, die gar keine ist, sondern die Wohnung von Freunden, die beim Bau ihres Hauses über das Kellergeschoss und eine Treppe in den ersten Stock, den es noch nicht gibt, nicht hinausgekommen zu sein scheinen.

Hier soll getanzt werden unter freiem Himmel in einem Kellergeschoss nach oben offen. Bis eben gab es Strom. Jetzt, wo die Gäste kommen, ist er weg. Das Brautpaar erscheint, bahnt sich den Weg über Schutt und Geröll im Dunkeln zum Bauplatz. Und als hätte Allah ein Einsehen, ist der Strom wieder da, die Disco hämmert amerikanische Beats in die dunkle Nacht.
guinea_img_32Ein weiterer Höhepunkt – die Hochzeitstorte – wird hereingetragen. Eine im Verhältnis zur bisherigen Bewirtung eher kleine Torte. Die frisch Vermählten schneiden sie gemeinsam entzwei und benötigen dafür Kraft und Zeit, denn die Torte ist gefroren.

Dann wird sie sofort weggetragen und in viele kleine Portionen zerlegt, die, in Packpapier und Plastiksäckchen verpackt, auf Mitnahme durch die Gäste warten. Noch im Auto auf der Rückfahrt macht sich BEBE über das Tortenstück her, das sie ergatterte und ist ganz verdutzt, dass ich nichts davon möchte. Sie scheint im Olymp des Genusses und sagt, meinen fragenden Blick bemerkend: Es gibt hier so gut wie keinen Kuchen, weil es keine Backöfen gibt. Und außerdem seien leicht verderbliche Zutaten, wie Milch, Eier, Sahne etc. ohne Kühlschränke nicht aufzubewahren. Ich schäme mich für meinen Blick.

guinea_img_33Wir sitzen noch bis tief in die Nacht zusammen. Heute ohne Strom. Benzin ist aus! Ich erfahre, dass die Braut, Fatoumata, aus armen Verhältnissen kommt, dass ihr Vater tot ist, ihre Mutter gar nicht bei der Hochzeitsfeier war, die wiederum gar nicht bei ihren Eltern stattfand, sondern bei entfernten Verwandten, die wirklich reich sind und der armen Fatoumata das Fest ausrichteten. So ist das bei uns, sagt BEBE, niemals würde eine Familie einen noch so fernen Verwandten aus ihrem Verbund ausschließen. Niemals. Eine Familie, die Geld hat und armen Familienmitgliedern nicht hilft, wird geächtet. Und warum lügt mich Fatoumata an, frage ich? Nach unseren Regeln hat sie nicht gelogen, sagt BEBE. Ihre Verwandten haben ihr das Hochzeitsfest „an Tochter statt“ ausgerichtet. So ist das hier.

Ich kriege doch auch nur Benzin, weil „meine Schwester“ unten an der Tankstelle arbeitet und mich bevorzugt behandelt. Aber sie ist nicht deine Schwester, sage ich. Nein, sagt BEBE, aber nach unseren Regeln ist sie es. Ich frage nichts mehr, gehe schlafen, finde keinen Schlaf. Es beunruhigt mich, dass ich mit zunehmender Aufenthaltsdauer immer weniger verstehe, was hier um mich herum passiert.

Am Stadtrand Conakrys passieren wir öfter harmlose Straßenkontrollen, vor denen auf der Homepage des Auswärtigen Amtes im Internet gewarnt wurde. Guinea ist eine Militärdiktatur. Der letzte Putsch ist erst etwas über ein Jahr her. Straßenkontrollen, das heißt: Soldaten mit Maschinengewehren haben einen zusammengeknoteten Strick über die Straße gespannt. Links und rechts sitzen zwei Militärs auf Stühlen, oder auf dem, was von ihnen übrig ist, und spannen auf Zeichen eines Offiziers den Strick bzw. lassen ihn fallen. Wir sollen uns ausweisen. Mein Pass ist uninteressant. BEBE plaudert mit dem Offizier, nennt ihn „mon frére“, dann, eine Geste des Offiziers, der Strick wird fallen gelassen, wir dürfen passieren. Ein einziges Mal traf mich bei einer Straßenkontrolle der Blick eines zornigen Soldaten, den ich mit: Was willst du hier? Hier gibt es nichts zu holen. Fahr nach Hause, Weiße! Wir brauchen hier keine Fremden, übersetzte. Er gab mir zackig, fast widerwillig meinen Pass zurück. BEBE lächelte ihn an und sagte etwas auf Malinke, das ich nicht verstand. Vielleicht sagte sie: Sie liebt unser Land, das ist doch schön, oder: glotz nicht so, sie ist weiß, so wie du schwarz bist, na und? Das Dorf, in das wir fuhren, riss mir fast das Herz entzwei. Kein Quatsch! Ich hatte Herzschmerzen, weil mein Körper offensichtlich zu viele Endorphine auf einmal ausschüttete. Afrika profunde. Keine Müllhalden, keine gottverlassenen Kreaturen am Straßenrand, keine Bauruinen, kein Smog, der die Sonne verdunkelte. Ein Dorfältester, vor dem ich fast einen Knicks gemacht hätte.

guinea_img_37cErst erschien seine Aura, der Mann, der mir seine Hand entgegen streckte, kam hinterher. Mir war, als gäbe ich dem Schicksal die Hand.
Dabei war er ganz irdisch, der Dorfälteste, seine Frau – eine seiner Frauen – kochte für uns ein Essen, das schmackhafteste, das ich je aß: Reis mit pürierter Maniokblättersauce.

Ein Dorfjunge kam mit einer frischen Kokosnuss und ich war zu blöd, sie zu öffnen, was ihn amüsierte.

guinea_img_35Überhaupt die Kinder. Die kleinen hatten Angst vor mir und klammerten sich an die Schöße ihrer Mütter, die größeren waren neugierig und konnten mit meinen Fragen nicht viel anfangen. Ich sah einer Frau beim Palmblätterspalten zu. Damit werden die Dächer der Rundhäuser in den Dörfern gedeckt. Sie war unglaublich geschickt.

guinea_img_36Ich hatte Angst, dass sie mich bitten könnte, ihr zur Hand zu gehen. Sicher hätte ich mich sehr blöd angestellt. Sie saß auf dem Boden, und riss, während sie mehrere Kinder auf dem Schoß hatte, mit den Fingern die Palmblätter in drei gleiche Streifen, die sie um sich herum zum Trocknen ausbreitete.
Die Überschaubarkeit der Konsequenz des eigenen Tuns in einem Dorfverbund wie diesem hier, vermittelt das Gefühl von Geerdetsein. Jeder hat seinen Platz, seine Pflichten, die nicht infrage, nicht auf den Kopf gestellt werden, sonst reißt das Netz, das alle hält. Noch im Flugzeug dachte ich: Auf die Frage: Was Frieden ist, weiß ich ab jetzt eine Antwort: ein kleines Dorf in Guinea, dessen Namen ich nicht weiß, an einer Lagune des Ozeans, wo ich im Januar 2010 Gast sein durfte.

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guinea_img_41Auf der Rückfahrt bemerke ich zum ersten Mal die so genannten „Abwaschfrauen“ am Straßenrand in Conakry. Sie sitzen vor mit Schaumwasser gefüllten Bottichen und reinigen das Geschirr, das Passanten ihnen zureichen. Auf Straßen, Plätzen, Märkten der Stadt gibt es überall improvisierte Verkaufsstände, wo Frauen für wenig Geld ein warmes Essen anbieten, aber man muss ein Behältnis dafür mitbringen. Ich fotografiere eine Abwaschfrau und bekomme Ärger mit zwei jungen Guineern, die mich beschimpfen und meinen Fotoapparat haben wollen. Ich tue so, als ob ich sie nicht verstehe. BEBE erscheint und erklärt die Beiden zu ihren Brüdern, mich zu ihrer Schwester, da lassen sie von mir ab.

Tennée, die Kunststudentin und Freundin von BEBE, lädt uns zur Premiere ihrer Theatergruppe „PHÖNIX“ ein. Das Stück heißt „Les mot pour la vie“ (Die Worte fürs Leben) von Jean-Michel Ribes, einem bekannten französischen Autor. Als Spielort stelle ich mir einen Jugendklub, ein kleines Theater, eine Probebühne vor. Aber wir landen in einer „Straßenbar“. Keine Bühne, keine Scheinwerfer, keine Tonanlage. Die „Bar“ liegt zu ebener Erde, unter freiem Himmel, vier Meter entfernt vom Straßenrand. Als Spielhintergrund dient eine rote Coca-Cola-Werbung an dem improvisierten Ausschank einer Bretterbude. Der Lärm der Straße spielt mit in dem Stück, die Spieler lassen sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Das Stück ist ein Geniestreich: Ein Ehepaar, das sich nach Strich und Faden fetzt, bekommt als Streitschlichter einen „Casque bleu“, einen Blauhelmsoldaten, „zugeteilt“. Der private Rosenkrieg zwischen dem Ehemann und seiner Frau wird durch die Anwesenheit des Soldaten zu einem Lehrstück über „unparteiische Konflikthilfe“. Der Casque bleu beginnt natürlich ein Verhältnis mit der frustrierten Ehefrau, der Ehemann rastet aus und verteidigt sein „Eigentum“ gegen den Militär. Eine gelungene Allegorie auf „uneigennützige“ humanitäre Hilfe ausländischer Militärs in Krisengebieten der Welt, die durch die dunkelhäutigen, handwerklich exzellent ausgebildeten Spieler noch zusätzlich an Aktualität gewinnt.

Das Publikum, etwa 60 Männer verschiedenen Alters, ist total aus dem Häuschen. Ich hätte gern gewusst, warum keine Frauen zuschauen. BEBE sagt, das sei Zufall. Ich glaube ihr nicht und mache sie darauf aufmerksam, dass unsere Anwesenheit ja bereits den Unmut einiger zuschauender Männer erregte. Nach der Aufführung macht mich Tennée mit ihren Kollegen bekannt. Mohamed, Veronique, Madion, Mamadou von der Compagnie PHÖNIX-Theâtre erzählen fast beiläufig, dass diese Aufführung heute die Premiere war. Nein, auf einer richtigen Bühne mit Vorhang, Theaterlicht, Parkett und Publikum haben sie noch nie gespielt. Auch nicht während des Studiums an der Kunsthochschule, an der sie eine Allroundausbildung als Tänzer, Trommler, Sänger, Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen erhielten. Das Studium war hart, aber noch härter wäre es, jetzt als Freiberufler zu überleben. Schlimm sei auch die Demotivation durch ihre Familien. Ein Beruf, mit dem man kein Geld verdient, d.h. seine Eltern nicht unterstützen kann, wird bei uns nicht geachtet, sagen sie. Wir verabreden uns für den nächsten Tag bei BEBE. Sie wollen uns unbedingt eine neue Szene über das korrupte, marode guineeische Gesundheitswesen vorspielen.

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BEBE erzählt von ihrer Freundin Jeanne Macauley, 1945 auf den „Iles de Loos“ geboren, einer nur wenige Kilometer vor Conakry gelegenen Inselgruppe im Atlantik. Jeanne Macauley war einst das jüngste Mitglied des berühmten „Ballets Africains de Guinée“, mit dem sie die ganze Welt bereiste. 1990 gründete sie die Compagnie „SANKE“, was in der Sprache Sussu Wurzeln bedeutet.

guinea_img_44Wir fahren zum „Maison des Jeunes de Coleah Cité“, zum Jugendhaus des Stadtbezirks Coleah, das ein überdachter Betonschuppen ohne sanitäre Anlagen ist, und kraxeln über Bauschutt, Pfützen und Müllberge zum Eingang, der von neugierigen Passanten umlagert wird. Die Deutsche Botschaft in Conakry „spendiert“ der Halle gerade eine Bühne, ein Podest mit Holzbohlen, die jedoch teilweise gestohlen wurden, weshalb die Arbeit im Augenblick stagniert. Auf brüchigem Betonboden, probt Jeanne Macauleys Tanzcompagnie zum Rhythmus einer zehnköpfigen Musikergruppe mit Congas, Trommeln und Balafonen. guinea_img_46Etwa achtzig Neugierige stehen auf der halbfertigen Bühne am Ende der Halle, und schauen den Tänzern zu, die auf dem kaputten Boden halsbrecherische Sprünge absolvieren. Ich spüre den Ruck, der durch das Ensemble geht, als ich mit BEBE die Halle betrete. Die Chefin begrüßt uns, wir dürfen als einzige direkt vor dem hart arbeitenden Ensemble Platz nehmen. Eine Weiße! Vielleicht ein Impresario! Eine Tournee nach Europa… Die Hitze steht auf dem Hallendach, die Musiker verdichten den Rhythmus, werden aggressiver, staccativer, lauter.

Die muskulösen Körper der Tänzer und Tänzerinnen glänzen vom Schweiß, der an ihnen herab läuft. Die Besucher der Probe auf der halbfertigen Bühne hinter mir bewegen sich im Rhythmus der Musik, geraten wie Tänzer und Musiker in eine Art Trance, die mich ausschließt und vielleicht deshalb auch ängstigt. Die ganze Halle hebt ab, nur ich drifte in eine andere Richtung.

Ich fange hoffnungslos zu weinen an wie ein Kind. Es lässt sich nicht verbergen. Was war geschehen? Die Scham, meiner Hautfarbe wegen als Hoffnungsträger guinea_img_47in dieser Halle zu sitzen, zu sehen, wie meine pure Anwesenheit die jungen Tänzer motivierte, ihr Bestes zu geben, der Boden, auf dem kein europäischer Tänzer auch nur einen Sprung wagen würde, weil er die Gelenke ruiniert, der fehlende Backstagebereich mit Garderoben und Duschräumen, mit Getränken gefüllten Kühlschränken, die Abwesenheit des vermeintlich Normalen, das war offensichtlich zu viel für mich.
Wann war die Truppe das letzte Mal auf Tournee? Sie proben täglich. Wofür? Und Jeanne Macauley, die in Baskenmütze, Männerhemd und Männerhose ein bisschen wie Che Guevara aussieht und zwischen ihren Tänzern herumläuft als wäre sie zwanzig Jahre alt und nicht weit über sechzig… Als wir wieder auf der Straße stehen, legte BEBE ihren Arm um mich.

Jetzt fahren wir kurz zu Doktor Barry, sagt BEBE. Ich will nur ein Geschenk zu Taufe seines ersten Kindes abgeben. Es ist früher Nachmittag und immer noch sehr heiß. Ich darf in das Geburtszimmer, in dem einige Frauen um das Bett der jungen Mutter sitzen, die ihr drei Tage altes Mädchen Mariam im Arm hält. War es eine schwere Geburt, frage ich? Nein, sagt sie, richtig schlimm war es nur drei Stunden. Und als wäre ich in Deutschland, schaue ich den Ehemann, der Arzt ist an und sage: Und Sie, Sie waren doch sicher bei der Geburt dabei? Nein, sagt Doktor Barry, gütig lächelnd über meine Unwissenheit, das ist bei uns nicht üblich. Geburten sind Frauensache. Barry ist ein sympathischer Mann, der gern lacht, er studierte in Europa, war in den USA und ist streng gläubiger Moslem. Er führt BEBE und mich in eine überdachte Ecke des Innenhofes seines verschachtelten Hauses in der Altstadt. Wir laufen durch Räume, in denen Türme von Essen aufgebaut sind und Verwandte und Besucher geduldig warten, zur Kindsmutter vorgelassen zu werden. Barry führt uns zu einem Tisch um den ungefähr 15 Männer sitzen und beten. Wir sollen uns dazu setzen. BEBE spricht ein Gebet für das Neugeborene auf Malinke. Sie beginnt Sätze, auf die die Männer mit einer immer gleichen Floskel „antworten“. Die Männer sind festlich gekleidet, die meisten tragen den Boubou, ein Gewand, das bis zum Boden reicht, dazu passende Kopfbedeckungen. Dr. Barry trägt Hose und Kaftan aus zartgrünem Spitzenstoff und sieht darin durchaus wie ein stolzer Vater aus. Plötzlich sagt er: Und Sie, Barbara, können Sie unserer Mariam nicht auch einen Segen mit auf den Weg geben. Mir stockt das Blut in den Adern. Alle Männer schauen mich an. Ich sage: Gerne. Ich komme aus einer ganz anderen Kultur und bin konfessionslos aufgewachsen. Ich bin hier um zu lernen, zu verstehen. Eines glaube ich bereits verstanden zu haben: Die Familie ist in ihrer Kultur der Reichtum überhaupt. Nichts, was ein Mensch an Materiellem besitzen kann, geht über die Familie. Und so wünsche ich Mariam eine große glückliche Familie, in der sie geborgen aufwachsen kann, um ein glücklicher Mensch zu werden. Wie ich überhaupt Euerm Land mehr glückliche und zufriedene Menschen wünsche. Die Männer klatschen und ich schäme mich ein wenig. Gegenüber von Doktor Barrys Haus ist eine Schule.

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Nicht so eine Schule, wie wir sie kennen, ein kleiner unscheinbarer Flachbau, das „Foyer“ ist auch das Zimmer des Direktors. So hat er einen Überblick über Zuspätkommer und Ausreißer. Ich schaue neugierig hinein, der Direktor sagt: kommen Sie herein, unsere Schüler freuen sich. Und tatsächlich, die Sechs- bis Zehnjährigen kommen angerannt. Die Klassenzimmer sind klein, höchstens zwanzig Quadratmeter, dreißig Schüler in einer Klasse keine Seltenheit. Der Lehrer erzählt, es gibt Schulpflicht in Guinea, aber nicht alle Kinder kommen zum Unterricht. Als ich nach den Gründen frage, zuckt er mit den Schultern. Ich will wissen, wie hoch das Schulgeld ist. Er weiß es nicht.
Auf der Rückfahrt nach Yattaya kommen wir am Fußballstadion Conakrys vorbei. Ich will hinein. BEBE sagt, das wird nicht gehen. Und tatsächlich, man lässt uns nicht hinein. Ich bin eine Weiße und könnte eine ausländische Journalistin sein. Am 28. September 2009 gab es in Conakry eine Kundgebung von rund 50.000 Oppositionellen gegen den Junta-Chef Moussa Dadis Camara und dessen Streben nach dem Präsidentenamt. Die Demonstranten wurden im Fußballstadion gefangen gehalten, es wurde wild in die Menge geschossen, auf Menschen mit Bajonetten und Messern eingestochen, Frauen vergewaltigt. Es gab Tote und zirka 1.250 Verletzte. Dieses Fußballstadion wollte ich sehen. BEBE macht’s möglich. Vorm Stadion sitzt einer „ihrer Brüder“, ein ehemaliger Fußballnationalspieler, den sie kennt. Er redet mit den Soldaten am Eingang und siehe da: der Sesam öffnet sich. Sofort kommt der technische Direktor des Stadions herbei geeilt. Ich sage ihm, ich würde meinen deutschen Freunden gern erzählen, wie es jetzt hier aussähe nach dem Massaker vor vier Monaten. Er sagt: gehen Sie hinein, aber bitte keine Fotos, und öffnet mir ein Metallgitter.

guinea_img_51Auf sattgrünem Rasen trainiert eine Jugendmannschaft. Die Spielanweisungen des Trainers schallen durch das Stadion. Die angehenden Fußballer lachen und kabbeln sich. Auf einigen Bänken sitzen Schulklassen, die mit ihren Lehrern zuschauen dürfen. Ich stelle mir vor, wie der Rasen wohl am Abend des 28. September 2009 aussah und schieße ein Foto aus der Hüfte, während BEBE mit dem technischen Direktor plaudert.

Die Demonstration im September 09 begann friedlich. Dafür gibt es genügend Augenzeugen. Der internationale Protest gegen das Vorgehen der guineeischen Militärregierung (die sich im Dezember 2008 an die Macht putschte) verlief im Sande. Auf dem Rückflug erfahren die Fluggäste im Flugzeug, dass sie nicht wie gebucht nach Paris, sondern erst nach Bamako, der Hauptstadt von Mali fliegen. Eine Entscheidung der Fluggesellschaft Air France. In Conakry wird bis auf weiteres nur noch gelandet und abgehoben. Wartungsarbeiten an den Maschinen, das Auftanken und die bei Interkontinentalflügen obligatorische Auswechselung der Crew findet in Guinea nicht mehr statt.
Fliegt hin mit mir, wohin ihr wollt, aber nicht in den kalten Winter zurück, denke ich und lasse mich in die Sitzer fallen, so erschöpft bin ich. Lebt wohl BEBE, Tennée, Fatoumata, Mohamed, Bema, Massaba, Aicha, Ahmed, Dr. Barry und all ihr anderen! Gott sei Dank wisst ihr nicht, dass die Bundeswehr in Deutschland eure Putschisten mit ausgebildet hat.

Barbara Thalheim Februar 2010
Fotos: Barbara Thalheim / Sabine Pankratz