Frankreich 2018

Über mehrere Monate bereiste Barbara Thalheim 2018 Frankreich. Über 3.500 km legte sie allein im Land zurück. Sie besuchte Freunde, sowie Orte, die mit ihrer Familiengeschichte zu tun haben. 
Wöchentliche Kolumnen zu dieser Reise erschienen in der Tageszeitung „neues deutschland“.

In einem Leserbrief äußert sich Helga Witte aus Mirow zur Artikelserie:

Das Kaleidoskop, das Barbara Thalheim in Ihrer Zeitung in herrlich unprätentiöser Weise über ihre Reise durch Frankreich schildert, war ein Lesevergnügen der besonderen Art. In wunderbar leichtem Ton und mit doch so informativen aktuellen und historischen Hintergrundfakten spannt sie den Bogen von der Wiederbegegnung mit Freunden über bäuerliches Familienleben, lässt uns eine leibhaftige Schamanin und einen Jazzpianisten kennenlernen, trifft im Museum auf die Jugendjahre des einstigen chinesischen Politiker Deng Xiaoping in Frankreich, stößt in einem malerischen Dorf auf den Geburtsort des Bildhausers Aristide Maillol und in Montpellier auf Spuren der Grande Dame de la Chanson, Juliette Greco.

auf Ihrem Trip von Paris bis an die Mittelmeerküste, in die Provence und die Pyrenäenregion vermittelt sie – gespickt mit persönlichen Eigenarten, Anekdoten und dem sprichwörtlichen Savior vivre und auch freundlicher Ironie – Lebensentwürfe, Essgewohnheiten, Träume und Besorgnisse ihrer Freunde und zufälligen Gastgeber wie einstige Tourneepartner, Lehrer, Hausfrauen, Landwirte, Restaurantbesitzer, deutsch-französische Paare und die Vita eines Migranten. Der Blick in deren alltägliches Leben und Streben macht Würze und Reiz der Beiträge aus. Und immer wieder schimmert die große Empathie der Autorin für ihr Gegenüber durch. Wer sollte angesichts solch schöner Verve nicht neue Chansons der Thalheim erahnen?

Ihre Zuneigung zu dem Land und seinen Bewohnern, das ihrem Vater in den 30er Jahren Aufenthalt und Anfang des Zweiten Weltkriegs Zuflucht gewährt hatte, ihn jedoch nicht vor dem KZ bewahren konnte, scheint immens. Auf der Reise ist der Verehrte der stille Begleiter der Tochter. Wie wohl auch deren verstorbener künstlerische Kollege und Gefährte Jean Pacalet.

 

Ihre Stationen:
45220 St. Germain de Pres / 45200 Montargis / 21000 Dijon / 87520 Oradour-sur-Glane / 30260 Sérignac / 66100 Perpignans / 64000 Pau / 64140 Billère / 69002 Lyon / 34000 Montpellier / 66500 Mosset, Mas de la Coûme / 30700 Arpaillargues / 66650 Banyuls-sur-Mer / 93160 Noisy le Grand / 45510 Neuvry-en-Sullias / 73000 Chambéry, La Ravoire / 75018 Paris

Artikel:

Kolumne I : Rückkehr nach Montargis | 21.4.2018
Kolumne II : Das Fahrrad von Deng Xiaoping | 27.4.2018
Kolumne III : Wo Maiglöckchen Glücksbringer sind | 05.05.2018
Kolumne IV : Kleine Schritte der Versöhnung | 12.05.2018
Kolumne V : Eine mongolische Jurte im Garten | 19.05.2018
Kolumne VI : Unterm Regenbogen | 26.05.2018
Kolumne VII : Débrouillez-vous | 02.06.2018
Kolumne VIII : Farmer wider Willen | 09.06.2018
Kolumne IX : Dialog mit Gréco | 16.06.2018
Kolumne X : Es steckt ein Lied in allen Dingen | 23.06.2018
Kolumne XI : Geputzte Gewehre |30.06.2018

I. Rückkehr nach Montargis

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 21./22.4.2018

Es war am 7. Oktober 2001 – Welttag für menschenwürdige Arbeit – als ich gemeinsam mit Jean Pacalet auf einer unserer Reisen nach Paris in der Stadt Montargis hängen blieb. Montargis: knapp 15 000 Einwohner, hoher Emigrantenanteil, 100 km südöstlich der französischen Hauptstadt, auf dem Plateau du Gâtinais gelegen. Mein Auto streikte. Die Menschen der Stadt, in die wir geraten waren, auch.
Die Gewerkschaft CGT hatte landauf landab zu Demos für die „Sans-Papiers“ (MigrantInnen ohne geregelten Aufenthaltsstatus) aufgerufen. Der Demonstrationszug in Montargis formierte sich gerade, als mich jemand neben meinem streikenden Auto an der Schulter packte, in afrikanischem Französisch auf mich einredete, nicht bemerkend, dass ich kein Wort verstand und mich zwischen dunkelhäutigen Menschen hindurch in die erste Reihe des Demonstrationszuges direkt hinter die Banderole schob. Man bedeutete mir, beide Hände in die Tragegriffe des Transparentes zu stecken und schon marschierten wir los. Ich in der Mitte, offensichtlich neben einem der Bosse der CGT. Zumindest ließen das die auf ihn gerichteten Kameras und Mikrofone der rückwärts vor uns herlaufenden Journalisten vermuten. Links und rechts von uns weitere Menschen, die am 10 Meter breiten Spruchband mit trugen. Darauf stand in etwa: „Ohne uns geht Frankreichs Wirtschaft in die Knie! Leben in Frankreich legalisieren! Sonst geht IHR mit uns unter.“
Meine Versuche, mich aus dieser misslichen Situation zu befreien, scheiterten. Immer verhinderte jemand hinter mir, dass ich mich aus dem Staub machen konnte. Nach eineinhalb Stunden strammem Marschierens durch und um die Stadt herum war der Spuk für mich vorbei. Pacalet und ich suchten nach einem Internetcafé, um Autowerkstatt und Übernachtung zu finden. Dort, wo Montargis, das „Venedig der Loiret“, seinen Charme längst eingebüßt hat, in den ghettoisierten Neubauquartiers, wurden wir fündig. Am Computer neben mir saß ein junger Afrikaner, Bobo aus Senegal, der natürlich auch auf der Demo war. Seit 4 Jahren war er in Frankreich, teilte sich ein Zimmer mit vier Landsleuten, lebte von Gelegenheitsjobs, ohne Krankenversicherung und die Hoffnung auf Legalisierung seines Status. Da wusste ich noch nicht, dass ich zwei Jahre später auf der „Sklaveninsel“ Gorée im Atlantik vor den Toren Dakars seine Familie kennenlernen würde, zehn Leute, die eine Hoffnung verband. Sie hieß: Bobo in Europa!
Mittlerweile kenne ich in Montargis jedes Bild in den Museen, jedes Café, in das man lieber nicht gehen sollte, jede Parkbank, die zwei zur Stadt gehörenden Supermärkte und alle Mitarbeiter des Tourismusbüros. Auch Laurent und Brigitte Mellot, einen Landwirt und seine Frau aus Saint-Germain-des-Prés bei Montargis lernte ich kennen. Die Namensgleichheit mit dem Pariser Quartier der Existenzialisten ist Zufall und den meisten Bewohnern dieses Dorfes vielleicht gar nicht gegenwärtig. Und da bin ich jetzt wieder. In Saint-Germain-des-Prés bei Brigitte und Laurent. Im April 2018, der ersten Etappe meiner dreimonatigen Frankreichreise.
Der alte Bauer Philippe, Vater von Laurent, ist vor zwei Jahren gestorben. Ich mochte ihn. Irgendwann hatte er altersbedingt seinen Vornamen eingebüßt und hieß fortan selbst für den Briefträger nur noch Papy. Wenn er mich sah, bat er mich ins Haus, um mir noch und noch einmal die Geschichte von Fritz, Hans und Peter „seinen“ deutschen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Und jedes Mal ergänzte Mami, seine Frau, dass die Deutschen trotz des strengen Verbotes bei den Mahlzeiten mit am Familientisch aßen.
In den deutschen Wirtschaftswundernachkriegsjahren kamen Fritz, Hans und Peter dann in fabrikneuen VW Käfern vorgefahren, um Freunden, Freundinnen und Ehefrauen den Mann zu präsentieren, bei dem sie es den Umständen entsprechend gut hatten im Krieg.
Papys Sohn, Laurent, geboren in den 50er Jahren, erzählt von seiner und seines Bruders Kindheit in dem imposanten Jagdschloss, das seit über zwei Jahrhunderten Familienbesitz ist. Er erzählt von seiner Mutter, die als junges Mädchen und einzige Tochter einer reichen französischen Gutsherrenfamilie mit Schloss, Gesinde, Gutsverwalter und Jagdvereinen, mit einem Tagelöhner durchbrannte, dem Mann, der sein Vater wurde und ein halber Analphabet war. Laurents begüterte Großeltern hatten ihre Tochter, seine Mutter, deshalb enterbt, so heftig war der Zorn über die nicht standesgemäße Verbindung.
Aber die Ehe hielt und war wohl bis zum Schluss eine glückliche Beziehung. Papy hat Geld und Ländereien der Familie nach dem Tod seiner Schwiegereltern zusammengehalten. Nun lebt seine Witwe allein im Erdgeschoss des Jagdschlosses wie in einer Filmkulisse. Jahrhunderte alte Möbel, blinde Spiegel, Kamine, Stofftapeten, Marmorfliesen, die es schon lange nicht mehr im Kiesbett hält, knirschen und wackeln bei jedem Schritt durch die Empfangshalle, erzählen von einer anderen Epoche, einer anderen Welt. Aber nicht vom Krieg. Denn Krieg fand hier nicht statt. Obwohl Verdun nur ca. 200 km entfernt ist.
An dem großen alten Tisch im Schloss sitzen drei Generationen; Mami, der Platz von Papy ist nun seit fast 2 Jahren leer. Laurent, der Sohn mit seiner Frau Brigitte und deren erwachsene Kinder. Ich muss ein bisschen weinen nach der Liebesgeschichte von Mami und Papy und halte frech mein Cognacglas zum Nachfüllen hin.
Und was haltet ihr von Macron, frage ich, das Thema wechselnd? Plötzlich wollen alle den Tisch abräumen. Na besser als der Vorherige, sagt Marc, der Sohn von Laurent und Brigitte. Mehr gibt es dazu offenbar nicht zu sagen.

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II. Das Fahrrad von Deng Xiaoping

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 28./29.4. 2018

Kurz vor meiner Weiterreise nach Noisy-le-Grand fällt mir auf:
Da steht ein Bronze-Chinese in Lebensgröße auf der Place du Patis. Eine Skulptur des chinesischen Bildhauers Li Xiao Chao, wie sich herausstellt, der Stadt Montargis gestiftet. Ich frage eine mit Einkaufstaschen bepackte Frau, wer das sei. Sie zuckt die Schultern, sagt im Weitergehen: „Vielleicht ein früherer Bürgermeister, keine Ahnung.“ Da geht sie hin, die wahrscheinlich jeden Tag hier vorbeikommt, und interessiert sich nicht für die – noch dazu handwerklich exzellent gemachte – Skulptur.
Mich interessiert sofort, warum in der kleinen Stadt Montargis im Loiret, in Frankreichs Mitte – weit entfernt vom Reich der Mitte – seit 2014 ein bronzener Chinese steht. Bald weiß ich:
Nicht nur in China, in ganz Asien kennt jedes Kind die Geschichte der Chinesen von Montargis.
„Sie steht bei uns in den Schulbüchern“, sagt mir die junge Chinesin, die die Tür des versteckt gelegenen Museums der „Chinesen von Montargis“ vor und hinter jedem Besucher auf- und wieder zuschließt. Denn in Montargis, erklärt sie mir, habe die Wiege der Kommunistischen Partei Chinas gestanden. Die schöne Frau ist höchstens Anfang Zwanzig und ich überlege, ob ich hier komplett hopsgenommen werde.
Aber die Geschichte stimmt und geht so:
Von 1902 bis1927 kamen ca. 4000 junge Chinesen, zumeist Intellektuelle aus bürgerlichem Milieu nach Frankreich. 400 von ihnen waren an der Gründung des „Mouvement Travail-Études“ (Arbeits- und Studienbewegung) beteiligt, das der chinesische Agrarökonom, Biologe und erste Austauschstudent Chinas in Frankreich Li Sheizeng, als „École Pratique d’Agriculture du Chesnoy“ (Ausbildungsstätte für allgemeine und technologische Landwirtschaft in und um Montargis) ins Leben rief. Bis Mitte der 1920er Jahre entstand um das Mouvement herum eine bedeutende chinesische Gemeinschaft in Montargis. Der damalige Bürgermeister und sein kompletter Stadtrat waren begeisterte Förderer der chinesischen Commune und unterstützten die jungen Intellektuellen mit Studien- und Wohngebäuden. Die studierten die französische Sprache und ein damals absolut futuristisches Fach: Agrarwissenschaften. Außerdem arbeiteten sie in der nahe gelegenen Kautschukfabrik.
Unter den Studierenden waren es vor allem Deng Xiaoping (er führte die Volksrepublik China von 1979 bis 1997) und der weniger bekannte Intellektuelle Ts’ai He-sen (nach seiner Rückkehr Mitglied diverser Zentralkomitees und Politbüros), die regelmäßigen Briefkontakt zu Mao Tse Tung hielten. Bezogen auf deren Ausführungen zur Chinesischen Revolution und zur Gründung der Kommunistischen Partei Chinas (1921), schrieb Mao: „Es gibt nicht ein Wort (von ihnen) mit dem ich nicht übereinstimme.“
Viele spätere Spitzenpolitiker und Funktionäre der KP Chinas rekrutierten sich aus der Gruppe der „Chinesen von Montargis.“ Im Museum steht beispielsweise das Fahrrad von Deng Xiaoping, ein vorsintflutliches Gefährt, das ihn zur Schicht in die Kautschukfabrik fuhr. Fotos fast aller französischen Staatspräsidenten beim Händeschütteln und Umarmen chinesischer Politiker sind die einzigen Farbexponate der aufwendig gestalteten Ausstellung. Befremdlich für heutige Betrachter ist das quasi in die Haut getackerte Lächeln auf beiden Seiten. Wobei die greisen Chinesischen Partei- und Staatsführer wohl in memoriam an ihre Jugend in Montargis so merkwürdig lächelten.
Auf den Feldern im Loiret blüht der Raps. Was hat sich Gott bei der Erschaffung dieses Gelbs gedacht? Van Goghs Gelb. In einem Brief an seinen Bruder Vincent beschrieb der Maler, wie er vorgeht, um genau diesen Gelbton zu mischen. In van Goghs Zeit wurde Raps zu Lampenöl verarbeitet. Heute haben wir die Wahl, sagt Laurent, der Landwirt, mein „Herbergsvater“ hier in Saint-Germain-des-Prés bei Montargis: Biodiesel, Rohstoff für chemische Industrien, Speise- und Motorenöle. In jedem Fall ein gutes Geschäft. Ich frage ihn, warum er seine Ernte nicht ausschließlich zur Nahrungs-, statt zur Kraftstoffgewinnung verkaufe. Er lacht. „Ich verkaufe an den, der mir am meisten bietet, das ist doch logisch, machen doch alle so.“ Huxley’s Satz: „Man wird so genormt, dass man nichts anderes tun kann, als man tun soll“, fällt mir ein. Laurent ist 63 und hat mit Abstand die größte Farm hier im Gâtinais. „Ich habe meine Felder bestellt“, sagt er. „Aber sieh dich doch um: Immer mehr Brachen. Französische Zahnärzte und argentinische Anwaltskanzleien kaufen hier Land, weil Landbesitz heutzutage die beste Bank ist. Das macht mich fuchsteufelswild. Land kaufen, um es teurer zu verkaufen – das ist unmoralisch. Land besitzen, um ihm Erträge abzuringen, das entspricht meiner Moral.“
Ich verabschiede mich von Laurent und Brigitte. „Kommt mich besuchen“, sage ich nicht zum ersten Mal. Und weiß doch, sie werden mich nie besuchen in Berlin. Schöner als hier kann es nirgendwo sein, denken die beiden. Glaube ich.
Ich fahre die schmale Straße hinunter nach Amilly in Richtung Montargis zur Autobahn gen Norden vorbei an kleinen Häusern, die Namen tragen, weil die kleinen Straßen hier zumeist keine haben. Ein Haus heißt „Die gut Platzierte“ (Haus ist weiblich im Französischen) ein anderes „Großvater ohne Bart“, eine Pariser Familie mit vielen Kindern nennt ihr Haus: „Hier-kommt-nicht-jeder-rein.“ Ich male mir aus, wie die Besitzer ihre Häuser tauften und höre noch beim Abbiegen auf die Nationalstraße den Esel von Laurent schreien. Nach mir?

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III. Wo Maiglöckchen Glücksbringer sind

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 05./06.05. 2018

Das alte Zentrum von Bry-sur-Marne, einer Kleinstadt zwölf Kilometer östlich von Paris, seift mich ein mit urfranzösischem Charme. Eine schmal ansteigende Straße mit kleinen Geschäften für Menschen mit kleinem Budget führt zur Mairie, dem Rathaus mit der obligatorisch gehissten Trikolore.
Ich betrete die Boulangerie, kaufe ein besonders schmales Baguette („Ficelle“, Faden genannt), halte das Brot in der Charcuterie nebenan über den Ladentisch und bitte darum, es dick mit Rillette de Lapin zu bestreichen. Mit meinem Rillette-Baguette bestelle ich im „Bar Tabac“ einen Café Crème und verdrücke an einem der drei Tische vor der Kneipe mein Strippenbaguette mit Hasenfleischpastete. Neben mir vier Männer in Arbeitskleidung, Kanalarbeiter, sie kommen aus einem Schnellimbiss, gönnen sich in der Mittagspause schnell noch ein Bier. Zu ihnen gehört ein fünfter Mann. Sehr jung, sehr schüchtern, sehr schwarz. Er steht einige Schritte entfernt von seinen Kollegen. Am Stehtisch ist kein Platz für ihn, den Muslim. Offensichtlich weiß er nicht, wie er sich ein Wasser oder einen Tee bestellen soll. Keiner seiner Kollegen merkt es. Mit fällt Goethe ein: „Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.“
Märchen halten für Orte wie diesen Dornenhecken bereit. Hier sind es grau genormte Betonquader, die die alte Stadt umschließen. Schlafplätze für die, die sich Paris nicht leisten können, aber dort arbeiten, so sie Arbeit haben. Willkommen in der Banlieue! Banlieue heißt Bannmeile. In allen französischen Banlieues zusammengenommen leben heute fast fünf Millionen Menschen.
Nur wenige Kilometer vor Bry-sur-Marne entfernt vereinen sich die Flüsse Marne und Seine, um einer der schönsten Städte der Welt den letzten Schliff zu geben. „Paris, ein Fest fürs Leben“. Welchen Titel würde Hemingway seinem Buch heute geben?
Ich aber will noch nicht nach Paris. Mein Ziel heißt jetzt: Noisy-le-Grand, eine Stadt mit 66.300 Einwohnern, nur wenige Kilometer von Bry-sur-Marne entfernt. Ich bin auf dem Weg zu Charlotte und Jean-Pierre.
Die Liebesgeschichten deutsch-französischer Paare, die ich seit dem Mauerfall kennengelernt habe, sind oft so drôle wie bizarr. Diese geht so: Charlotte, wohlbehütete Abiturientin aus Hannover mit schlechten Französisch-Noten, wird 1964 vom Schuldirektor persönlich, ihrem Vater, zum Zug nach Paris gebracht, wo sie ihre Sprachkenntnisse aufbessern soll. Jean-Pierre indessen IT-Fachmann und Angestellter eines französischen Unternehmens, das in den 60er Jahren mit der DDR gute Geschäfte macht, unternimmt in ebendieser Zeit mit fünf Kollegen eine Städtereise durch die DDR. Exotischer ging es kaum für den jungen Mann. Der Reiseleiter des DDR Jugendreisebüros sprach perfekt Französisch. Jean-Pierre fühlte sich wie ein ins Wasser geworfener Schwamm: Am Ende der Reise konnte er keine Information mehr aufnehmen, sonst wäre er untergegangen. Beim Abschied auf dem Bahnhof Berlin-Friedrichstraße – der Zug von Moskau-Paris war bereits eingefahren – bemerkte der DDR-Reiseleiter, dass er die Fahrkarten und Pässe seiner französischen Reisegruppe im Büro vergessen hatte. Kurzum: der Zug fuhr ohne sie ab. Ein Drama. Denn nun waren die Visa abgelaufen. Plötzlich zeigte sich die DDR von ihrer weniger charmanten Seite. Am nächsten Tag klappte die Rückreise. Der Reiseleiter aber machte sich aus dem Staub. Er hatte keine Devisen auftreiben können, um neue Billets zu kaufen und ließ die Franzosen in dem Glauben zurück, ihre Fahr- und Platzkarten wären auch für diesen Zug gültig. Bis Hannover ging alles gut. Sie hatten sich auf die Plätze ihrer verfallenen Karten gesetzt. Dann aber kamen fünf deutsche Frauen mit gültigen Platzkarten in das Abteil. Unter ihnen die 18jährige Charlotte, die zu schüchtern war, sich in den heftigen Streit, den die fünf Franzosen wegen ihrer ungültigen Karten mit dem Zugführer hatten, einzumischen.
Als der Zug nach über neun Stunden in Paris ankam, saßen fünf Franzosen und fünf deutsche Frauen, eng aneinander gequetscht in dem Abteil mit sechs Plätzen. Vier davon wurden Paare und heirateten noch im selben Jahr, darunter Charlotte und Jean-Pierre.
Am 1. Mai zieht es mich zum Rathaus von Noisy-le-Grand zur Mai-Demonstration. „Demonstration?“, Charlotte lacht. „Komm, ich zeige dir, was wir hier am Tag der Arbeit machen.“
Wir fahren in die City. Schon auf dem Weg dorthin werden an jeder Straßenecke Mai-Glöckchen verkauft. Mai-Glöckchen wohin das Auge blickt. Symbol wofür? Für den Frühling? Die Arbeiterbewegung? „Für Franzosen sind Maiglöckchen Glücksbringer“, sagt Charlotte. „Fahr nach Paris, wenn du willst, da sind die großen Demos, aber ohne mich.“ Wir kaufen zehn Sträußchen Maiglöckchen, verschenken sie an Passanten und beobachten, wie sie die Glücksbringer weiterverschenken. Das macht Spaß.

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IV. Kleine Schritte der Versöhnung

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 12./13.05. 2018

Limoges, ein Wort, das auf der Zunge zergeht, bevor die dritte Silbe dran ist. Limoges erinnert an den Geschmack von Kümmel-, Zitronen- und Orangenöl in gut sortierten Küchen. Aber Limoges, im Departement Haute-Vienne, der Region Nouvelle-Aquitaine, ist eine 130.000-Einwohnerstadt im Südwesten Frankreichs.
Ich sitze vor der die Stadt von jedem Punkt aus überragenden Kathedrale „Saint-Étienne“ und beobachte vier Männer in weißen Mönchskutten, die sich um einen Mann gruppieren, der gegen den Wind Bauzeichnungen aufzufalten versucht. Dabei zeigt er auf Dachvorsprünge und Tennen des vierundzwanzig Meter hohen, bereits 1273 begonnenen sakralen Bauwerkes. Seine Zeichnungen flattern über die Place de la Cathédrale. Sicher muss Gott jetzt lachen, – falls sein Augenmerk gerade auf Limoges gerichtet ist – weil er sieht, wie die Mönche, als wären sie Comiczeichnungen entstiegen, auf dem Platz hin und her springen und nach den Papieren haschen, wie Kinder nach Luftballons.
Abends bin ich im Restaurant: „Les Tables du Bistro“ verabredet. Ein Wortspiel. In diesem Fall mit Tische – Tables – und Kuhstall – L’étable – ausgesprochen klingt beides gleich. Und wirklich: das Restaurant in einer alten Scheune auf zwei Etagen außerhalb der Stadt war ein riesiger Kuhstall. Der Gast kann am Eingang „Châtaigne“ (Kastanie), einer geschniegelten braunen Kuh und ihrem Kalb, sowie anderen Tieren, von Scheinwerfern gut in Szene gesetzt, beim „Abendmahl“ und beim Verdauen desselben zuschauen. Hinter Glas versteht sich.
Wieder einmal staune ich über die Ernsthaftigkeit, mit der Franzosen trotz knurrender Mägen tiefgreifende Diskussionen über Speisekarteninhalte führen. Ich schließe die Augen und tippe unter dem Aufschrei meiner Freunde mit dem Finger auf irgendein Gericht. Und wie meistens in Frankreich – es schmeckt.
Morgen ist der 8. Mai. Seit ich sprechen kann, das heißt noch bevor ich zu denken begann, ist dieser Tag für mich, die Tochter eines KZ-Inhaftierten, der Tag der Befreiung vom Faschismus. Genau das richtige Datum für den Besuch des „Märtyrerdorfes“ Oradour-sur-Glane, das in Frankreich jeder kennt.
Nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 erhielt die in Südwestfrankreich stationierte 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“ den Marschbefehl, die anrückenden Alliierten aufzuhalten. Als Vergeltung für den auch außerhalb der Résistance stark gewachsenen Widerstand gegen die deutschen Besatzer beging die SS massive Kriegsverbrechen an der französischen Bevölkerung. In Oradour-sur-Glane, nur wenige Kilometer von Limoges entfernt, wurden am 10. Juni 1944 642 Dorfbewohner, davon 245 Frauen und 207 Kinder, ermordet. Oradour-sur-Grane ist wohl das einzige Dorf der Welt, in dem bis auf eine Handvoll Überlebender alle Bewohner den gleichen Todestag haben. General Charles de Gaulle verfügte, die Ruinen des niedergebrannten Dorfes als Denkmal zu bewahren. Kein Foto, keine Artikel, kein Film kann heute die Emotionen vermitteln, die einen nicht über-, nein, anfallen, wenn man selbst durch das Ruinendorf geht. Alles was erhalten ist – was nicht brennt: Stein, Metall, Erde, spricht zu uns, den Nachgeborenen.
Nur ein Schuldiger kam in Deutschland vor Gericht (obwohl alle Schuldigen namentlich bekannt sind): der SS-Mann Heinz Barth, Zugführer im SS-Panzergrenadier-Regiment 4.
Nach dem Krieg ging der Mann zurück in seinen Heimatort Gransee in der DDR. Er lebte unbescholten mit seiner Familie, die keine Ahnung von seiner Vergangenheit hatte, als er 1983 wegen des Massakers in Oradour-sur-Glane verhaftet wurde.
Man überführte und verurteilte ihn zu lebenslänglich. Jedoch wurde er in den 1990er Jahren aus Gesundheitsgründen aus der Haft entlassen. Ich stelle mir kurz vor, die Tochter dieses Mannes gewesen zu sein. Und ahne: Ein einmal geführter Krieg geht nie vorbei.
Auf dem Friedhof von Oradour gibt es immer noch Grabmäler mit der Inschrift „Ermordet von den Deutschen.“
Aber einige französische Opferfamilien haben die Inschriften auf den Gräbern ihrer Lieben ändern lassen. „Ermordet von der SS, oder „von den Nazis“ steht jetzt darauf. Die Schritte hin zu Versöhnung sind klein.

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V. Eine mongolische Jurte im Garten

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 19./20.05. 2018

Schon früh halten Touristenbusse mit Asiaten in der Nähe der Fußgängerzone. Dort sind die Läden, die das kulinarische „Wahrzeichen“ der Stadt Dijon verkaufen, den Senf. Müssen die Ladenbesitzer, weil ihnen die Touristen zugeführt werden, vielleicht Provision an die Reiseunternehmen zahlen, frage ich mich? Oder gehören die Senfläden gar den Reisebüros? Hallo, will ich rufen, die verkaufen Euch hier gerade etwas, das ihr überall auf der Welt erwerben könnt. Dijons Senf ist international bekannter als seine Weine.
Es ist 9.00 Uhr. Ich durchstreife die City nach Frühstücks-Croissants aus handgemachtem, nicht industriegefertigtem Teig. Ein gutes Croissant muss krack machen im Mund, es muss nahezu dunkelbraun, ein wenig fettig und warm sein.
Ob sie in der Brasserie an der Place François-Rude selbst gemachte Croissants anbieten? Und ob!
Am Nebentisch sitzt ein stark parfümierter Herr mittleren Alters an seinem Laptop. Leere Café-Tassen bilden einen Schutzwall um seine Wirkungsstätte. Zu ihm gesellt sich ein Bekannter. Während sie über Fußball streiten, saugt der Parfümierte – als wäre er ein Riesenoktopus im Zoo – hinter dicken Brillengläsern seinen Bildschirm ab. Ein Aktienspekulant. Das ganze Café muss sich jetzt anhören, dass er „reingeht“, wie viel er anlegt, dass er wieder „rausgeht“. Der Mann widert mich an und ich überlege kurz, ob ich beim Aufstehen seine Brille vom Kopf wische, um dann „aus Versehen“ draufzutreten.
Ich besuche Anne-Laure, die für deutsch-französische Städtepartnerschaften zuständige Bi-Langue-Frau in Dijon. Die burgundische Hauptstadt ist außerordentlich gastfreundlich und weiß gut mit ihrem Alter zu kokettieren. Der beliebte Bürgermeister François Rebsamen – während Hollandes Präsidentschaft kurz Minister seines Kabinetts – lässt zum Beispiel innerstädtische Autoparkplätze verschwinden, um sie durch fantastische Menschen-Parkplätze zu ersetzen. Und die Dijoner danken es ihm. Wie auch die burgundischen Winzer meinen, dass der Name des Bürgermeisters vielleicht ein Omen für den Weinanbau der Region wäre.
Das Wetter lässt seit Tagen Novembergefühle aufkommen. Wir suchen Schutz im Musée des Beaux-Arts, einem der ältesten Museen Frankreichs. Weltweit bekannt sind drei Grabmäler, die von 82 Klagefiguren aus Alabaster, den Pleurants genannten Darstellungen trauernder Menschen, „geschultert“ werden. Kein Gesichtsausdruck, keine Geste, keine Hand, kein ausgestreckter Finger, keine Falte in Haut und Kleidung der trauernden Figuren wiederholt sich auch nur ein einziges Mal. Sie sind um die ganze Welt gereist, die nur ca. 40 cm großen Pleurants. Seit ca. 500 Jahren trauern sie um Philipp II., Johann Ohnefurcht und seine Frau, Margarete von Bayern.
Am 12.Mai nehme ich dann die „Autoroute du Soleil“ Richtung Süden und verlasse Dijon über Nîmes, wo heute noch in den Arènes Maison Carrée Stierkämpfe vor tausenden Zuschauern ausgetra… nein, ausgestochen werden. Ich wechsele aber bald auf die parallele „Nationale 7“, (Nationalstraße 7). Sie hat Geschichte geschrieben, als am 14. Juli 1936, dem französischen Nationalfeiertag, fast alle Pariser gleichzeitig auf dieser Straße ans Meer fuhren. Im Juni des Jahres hatte die französische Regierung ein Gesetz verabschiedet, wonach jedem arbeitenden Franzosen (Französinnen natürlich auch) das Recht auf zwei Wochen bezahlten Urlaub im Jahr zustand. Bald kamen die „Goldgräber“, um sich entlang der Nationalstraße 7 anzusiedeln. Es entstanden Hotels, Autowerkstätten, Bordelle, Märkte, Cafés, Restaurants, Spielhöllen, und so weiter. Eine ganze Industrie, zum pinkinären Abschöpfen der feriengelaunten Franzosen. Charles Trenet besang es in seinem Lied „On est heureux Nationale 7“.
Als man aber ab 1974 auf die „Autoroute du Soleil“ umsteigen konnte, die einen viel schneller an die Côte d’Azur brachte, machte die Nationalstraße schlapp. Sie hatte ihren Zweck erfüllt und präsentiert sich heute als „Région abandonée“ mit Schicksalen, die noch erzählt werden wollen.
Ich fahre nach Sérignac zu dem Pianisten René Bottlang, mit dem ich 1994 eine sehr schöne Tournee mit Romantik-Liedern absolvierte.
Nach sechs Stunden Autofahrt steht er vor mir, der asketische Mann. Wir versichern einander, dass wir uns kaum verändert hätten und lachen gleichzeitig über das blöde Kompliment. Ich lerne seine Frau Solongo aus Ulan Bator kennen, seine minderjährigen Töchter Zaiat, Amédi‘e und Tenger. Der Name der jungen Schamanin, die ihre Jurte im Garten aufgebaut hat, bedeutet Himmel. Auch Chogy, Dolmetscherin für Französisch-Mongolisch, jetzt in Paris lebend, ist zu Besuch.
Verdammt! Wo bin ich hier?
Wie kommen die Mongolen in dieses Dorf? Das erzähle ich Euch nächsten Sonnabend.

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VI. Unterm Regenbogen

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 26./27.05. 2018

Seit sechs Wochen bin ich nun in Frankreich.
Zuletzt fuhr ich quer durch die Provence über Uzès und Nîmes nach Sérignac zu dem Pianisten René Bottlang, dem Mann mit der Jurte im Garten.
„Nach Süden, nach Süden wollte ich fliegen, um vor dem Winter abzuhaun.“ Der Lift-Song von 1978 lässt mein Auto vibrieren. Auf dem Beifahrersitz ein Zweig mit frischen Kirschen von Renés Nachbarn, geht es in Richtung Route du Soleil, und ich rieche bereits das Meer.
Die ersten Vorboten des Südens sind die Zypressen am Horizont. Sie sehen von Weitem aus wie die „langen Kerls“ des Preußenkönigs, die er 1806 nach dem verlorenen Krieg gegen Frankreich entließ. Immer mehr Palmen „wedeln“ sich in die Landschaft. Zedern mit Kronen, die ganze Dörfer beschatten, enorme Oleanderbüsche in kitschigem Rosa mäandern an Feldrändern. Die Felder selbst sind nach der ersten Ernte des Jahres blutrot durch die sich selbst aussäenden coquelicots – das war mein erstes französisches Wort – die Mohnblumen.
René – (re-nai-tre) der Name bedeutet wiedergeboren – kommt aus Lausanne, wo er auch Musik studierte. Als wir an unserem Romantik-Lieder-Programm arbeiteten, lebte der Kosmopolit gerade in Wien. Auf der Suche nach einem Probenraum mit Flügel kam ich auf die Idee, in der Deutschen Botschaft in Wien nachzufragen, wo man uns nahezu – in Ermangelung anderer Aufgaben? – fürstlich betreute. „Aber bitte nicht so laut“, sagte eine Mitarbeiterin, „der Botschafter liegt final erkrankt in seinen Privatgemächern, direkt über dem Saal.“ Der arme Mann starb später, obwohl wir den Flügel nie aufgeklappt hatten während unserer Proben. Bei der Premiere des Programms 1994 im Berliner Schauspielhaus, sang ich erstmals neben einem offenen Flügel und hatte das Gefühl, gegen das monströse Instrument ankämpfen zu müssen. Das gab dem ohnehin exotischen Programm eine anti-romantisch-avantgardistische Note.
Nach unserer Tournee hatte sich der „Wiedergeborene“ 1995 in die Transsibirische Eisenbahn gesetzt und war nach Ulan Bator in die Mongolei gefahren. Dort kaufte er sich ein Pferd und war drei Jahre lang fern von bis dato gekannter Zivilisation unterwegs. Bald sprach es sich in dem Land – viereinhalb mal so groß wie Deutschland, aber nur etwa drei Millionen Einwohner – herum, dass ein Schweizer Jazz-Pianist dort war. René wurde von Botschaft zu Botschaft gereicht, er gab Konzerte, die ihn auch mit Musikern aus der Mongolei zusammenführten, unterrichtete Jazz. Und: Er verliebte sich in 
Solongo, die in Ulan Bator Japanisch studierte und zu der Minderheit der Mongolen gehörte, die Englisch sprach. Solongo heißt: Regenbogen. Die Frau, die mittlerweile auch Französisch spricht und ein wenig Deutsch, macht gerade eine Ausbildung zur Restaurantköchin. Sie ist zum Anlaufpunkt der in Frankreich lebenden Mongolen geworden. Und so kam auch Tenger, die junge Schamanin, nach Sérignac. Für sie wurde die originale mongolische Jurte im Garten errichtet.
Tenger ist Mitte Dreißig. Wenn Solongo nicht zu Hause ist, haben wir keine Chance miteinander zu kommunizieren. Aber wir versuchen es mit Bleistift und Papier, mit Gesten und Gegenständen, die wir auf dem Tisch aufbauen und zuordnen.
„Schamanin wird man nicht, weil man es werden will, sondern weil man es ist. Und zwar bereits vor der Geburt“, sagt Tenger. „Der Animismus ist der verbreitetste Glaube in der Mongolei. Er beruht auf einer Art Kreditvergabe an die Elemente – Objekte, Pflanzen, Tiere, Seelen – wobei die Menschen folgen müssen“, erklärt sie, während sie Chogy, der Mongolisch-Dolmetscherin aus Paris, Zoüa, einer Mongolin, die in Nîmes lebt und Solongo bunte Cocktails mixt, dass mir bereits vom Zuschauen schlecht wird.
„Für uns kommt nach dem blauen Himmel lange nichts,“ sagt Solongo, „dann aber der Schamane, der mit den Geistern spricht. An unserer statt“.
Wenn Tenger eine Sitzung in ihrer Jurte anbietet, sind immer so um die acht bis zehn Mongolen anwesend, manchmal auch neugierige Leute aus dem Dorf. Für die übersetzt Solongo. Aber wenn Tenger dann in Trance ins Altmongolische wechselt, wird es auch für Solongo schwierig. Um ihrer Bestimmung – Schamanin – zu entsprechen, muss Tenger ihr Leben irgendwie finanzieren. Das macht sie täglich zwölf Stunden lang als Obstsortiererin am Fließband.
Ich frage die vier Frauen, ob sie mir vielleicht ein Lied aus ihrer Heimat vorsingen könnten. Kein Problem. Es ist ein Song mit gefühlt zehn Strophen, und alle vier Mongolinnen kennen den Text.
Als ich am späten Abend noch einmal an Tengers Fenster vorbeigehe, sehe ich die vier Frauen mit ihren quietschbunten Cocktails auf ihre iPhones starren, dort laufen Youtube Videos mit Barbara Thalheim.
Ich ducke mich unterm Fenster weg und gehe schnell zu Bett.

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VII. Débrouillez-vous

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 02./03.06. 2018

Als der Gitarrist und Sänger der Band „Pink Floyd“, David Gilmour vor einiger Zeit am Bahnhof von Aix-en-Provence auf seinen Zug wartete, beeindruckte ihn die Melodie des Jingles der französischen Bahn SNCF. Gilmour war entflammt, rief den Komponisten Michaël Boumendil an, bat ihn um die Genehmigung, seine aus nur vier Noten bestehende Komposition für einen eigenen Popsong verwenden zu dürfen. Es entstand „Rattle That Lock“ (), zu hören auf Gilmours aktueller CD. Es heißt, 94 Prozent aller Franzosen kennen die Melodie des SNCF-Jingles und können sie nachsingen. Quizfrage: Wie klingt das Pendant der Deutschen Bahn? Auf vielen französischen Bahnhöfen stehen Klaviere. „A vous de jouer!“ „Sie sind dran!“ steht darauf. Ein die Wartezeit verkürzendes Angebot an Klavier spielende Reisende, anderen Reisenden Freude zu bereiten. Als ich auf dem Bahnhof von Montpellier vor der elektronischen Anzeigentafel auf die Bekanntgabe des Bahnsteigs für meinen Zug nach Pau warte, setzt sich ein Afrikaner ans Klavier und spielt – ich glaube – Rachmaninow. Und zwar so virtuos, dass sich die geschäftige Bahnhofshalle für einen kurzen Moment in einen Konzertsaal zu verwandeln schien. Es ist zehn Minuten vor Abfahrt meines Zuges. Ich renne zum Auskunftsbüro. „Madame, bitte! Wo fährt der Zug nach Bordeaux ab?“ „Wird noch bekanntgegeben. Débrouillez-vous!“ Was soviel heißt wie: Sie müssen sich selber durchwursteln. Ich stürze zurück zur Anzeigetafel. Der Klaviervirtuose scheint zu wissen, wo sein Zug abfährt, das Instrument ist wieder frei. Ein Mann beruhigt mich. „Mir nach bitte!“ Wir rennen zum Bahnsteig 4, tatsächlich, der Zug nach Bordeaux fährt hier ab. Er hat eine andere Zugnummer als auf meiner Karte steht. Egal, rein, los. Später sagt der Kontrolleur, verwechselte Zugnummern kämen öfter vor. Er lacht, scannt mein Billet, übersieht andere Reisende, die ihm Karten hinhalten. Irgendwie gehört das „Débrouillez-vous“ zur französischen Mentalität und die ist, wenn man nicht gerade angewiesen ist auf eine Erklärung, durchaus sympathisch. Mein Ziel, die Stadt Pau mit knapp 80.000 Einwohnern, liegt in der Region Nouvelle-Aquitaine am Fuße der Pyrenäen und gehört zum Département Pyrénées-Atlantiques. Ich besuche Kathrin, die junge Thüringerin, die Italienisch und Russisch studierte, um letztendlich mit ihrem Französisch, das sie nicht studierte, zu glänzen. Kathrin, die deutsche, in Frankreich verbeamtete Kreative hat mit ihren Kindern Barbara Thalheim reiste 2018 drei Monate durch Frankreich. Von den Menschen, denen sie dort begegnete, erzählt die Liedermacherin in ihren Kolumnen „Bei Freunden in der Fremde“. 16 hier ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Wir fahren mit der alten Zahnradbahn hoch zum Schloss, wo man ein sagenhaftes Panorama auf die 430 km lange Gebirgskette der Pyrenäen zwischen Mittelmeer und Atlantik genießen kann. Aber nicht heute. Die Wolken hängen tiefer, als die Kirchtürme der Stadt hoch sind. Das bereits im 10. Jahrhundert auf einem Felsvorsprung am Fluss Gave de Pau begonnene, wuchtige Stil-Mix-Renaissanceschloss ist von keinem Punkt der Stadt zu übersehen. Als Museum beherbergt es heute – es waren über die Jahrhunderte wohl zu viele Bewohner, Besitzer, Besetzer, Kriege – eine kunsthistorische Gemischtwarenhandlung. Nicht das Schloss, sondern der nachweislich darin Geborene ist die Attraktion! Henri Quatre! Heinrich IV. wurde am 13.Dezember 1553 als Sohn des katholischen Herzogs Anton von Bourbon und der protestantischen Königin Johanna von Albret, geboren. Um auch ganz sicher einem männlichen Nachkommen das Leben schenken zu können, wurde die Königin angehalten, während der Geburt ja nicht zu schreien, und so versuchte die blaublütige Kreißende es mit gesungenen Klagelauten, die – so die Überlieferung – die 1,65 Meter dicken Schlossmauern vibrieren ließen. Als nahezu einziges Originalexponat kann man im Schloss den Panzer einer riesigen Meeresschildkröte bestaunen, der einst als Wiege für Heinrich IV. gedient haben soll. Henri Quatre wurde bis 1560 volksnah von einer bäuerlichen Familie in Coarraze erzogen. Aus dieser Erfahrung „speist“ sich wohl der von ihm überlieferte Satz: Jeder Franzose solle es sich unter seiner Regentschaft leisten können, sonntags ein Huhn im Topf zu haben. Von 1589 bis zu seiner Ermordung in Paris 1610 war Heinrich der IV. König von Frankreich. Ausgestattet mit der Macht, rang der zur Güte neigende um die Einheit der Nation. Ein Hugenotte! – das ist die französische Verballhornung des Wortes Eidgenosse (Ü-g-o-n-o) – der die Bartholomäusnacht 1572 überlebte, und zur Befriedung seines Reichs nicht ganz freiwillig zum Katholizismus konvertierte. Sein Satz „Paris ist eine Messe wert“ wird sprichwörtlich in den französischen Sprachgebrauch eingehen für etwas, das man nicht gern macht, aber wenn es zielführend ist, eben doch tut. Ein anderer Heinrich, Heinrich Mann, begegnete 1883 während seiner ersten Frankreichreise dem Stoff seines Lebens: Sein Buch „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ liegt im Museumsshop von Pau in vielen Sprachen bereit. Um es zu lesen, muss man nicht extra nach Pau reisen. Man kann es bestellen – nein, nicht dort, wo der geneigte Leser jetzt denkt – um die Ecke, beim Buchhändler seines Vertrauens. Das Werk ist ein Krimi. Unbedingt lesen!

>> SNCF-Jingle
>> Rattle That Lock

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VIII. Farmer wider Willen

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 09./10.06. 2018

Im März 1936 saßen zwei deutsche Männer in Perpignans ältestem Quartier „Saint-Jacques“ in einem typisch südfranzösischen Familienrestaurant beim Abendessen. Sie hatten sich viel zu erzählen. Der eine, 28 Jahre, Kommunist, Mitarbeiter der Tageszeitung der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP, eine Abspaltung der KPD, war nach Hitlers Machtergreifung 1933 aus Breslau vor seiner Verhaftung geflohen. Der andere, 58 Jahre, Sattlermeister, Sozialdemokrat, hatte die beschwerliche Bahnreise von Leipzig nach Perpignan auf sich genommen, um seinen im Exil lebenden Sohn wiederzusehen. Elf Jahre später wurden die beiden mein Vater und Großvater.
Es ist Mittwoch, der 6. Juni 2018. Mit dem Exiltagebuch meines Vaters laufe ich – 82 Jahre nach dem Vater-Sohn-Treffen – durch Perpignan. Hier muss es gewesen sein, in der Rue des Gitans war das kleine Familienrestaurant. Ein schmales Gässchen, wo, wie mein Vater schreibt, die Bewohner sich Hühner in den Kellern halten und Wäscheleinen von Haus zu Haus gespannt sind, wo man sich gegenseitig in die Fenster guckt und die schmalen Häuser alles ausplaudern, was in ihnen geschieht.
Meine Fragen sind nicht willkommen bei den Anwohnern. Nein, das Restaurant „Chez Jaqueline“ kennt hier keiner. Ich vermute, dass der Name ein Hinweis darauf gewesen sein kann, dass seine Betreiberin Feministin war. Im multiethnisch-kulturellen Quartier „Saint Jacques“ ein Restaurant „Chez Jacqueline“ – das ist kein Zufall. Auf dem Trottoir sitzt eine Frau, die Körbe flicht und mit einem alten Hörrohr hantiert. Sie bittet mich, meine Frage zu wiederholen. „Ooch, „Chez Jacqueline“, das ist lange her, zwei Häuser weiter war das, ist ein Obstlager heute.“ – „Das war das Restaurant“, sage ich, „in dem mein Vater und Großvater gegessen haben 1936. Sehr gut übrigens.“ Sie fragt verschmitzt, was sie gegessen hätten, und ich lese ihr den ins Tagebuch eingeklebten Zettel der Rechnung mit dem Menü vor. „Und Sie durften nicht mitkommen?“, fragt die Alte. Humor oder Alzheimer? Ich sage, dass ich noch nicht auf der Welt war. Darauf die Korbflechterin mit dem Hörrohr: „Dann waren die Männer ja gar nicht ihr Vater und Großvater.“ Ich bin platt ob dieser Logik und brauche erst einmal einen Coup de Rouge.
Perpignan, die – statistisch gesehen – heißeste Stadt Frankreichs, gilt als Hauptstadt des Französischen Kataloniens mit 120.000 Einwohnern im Département Pyrénées-Orientales, Region: Okzitanien, wozu Montpellier, Toulouse und sogar der Zwergstaat Andorra gezählt werden. Ich frage Martha im Nebenzimmer, die quirlige Chefin der « Mas de la Coûme », einer internationalen Jugendherberge, 800 Meter hoch in den Pyrenäen gelegen: „Region Okzitanien, stimmt das?“ Sie berichtigt mich streng: „Region Katalonien! Wir sind hier in Katalonien!“ O.k., das war mein Fettnapf! 30 km nördlich verläuft die Spanische Grenze. Und hinter dieser wurde Martha geboren. Natürlich ist mir gestern in Perpignan aufgefallen, dass die von jedem zweiten Balkon und aus vielen Fenstern wehenden rot-gelben Fahnen Kataloniens, auch Statements sind.
Mein Vater beschreibt in seinem Tagebuch seinen Aufenthalt in den dreißiger Jahren auf der durch englische Quäker erworbenen Farm „Mas de la Coûme“ in einem recht unwirtlichen Seitental des Pyrenäen-Gebirges, die sechs politischen Flüchtlingen zum Überleben in der Emigration zur Verfügung gestellt wurde. Seinem Vater wollte mein Vater die Gegend zeigen, in die ihn sein Schicksal als „Farmer wider Willen“ geführt hatte, nachdem er bereits eineinhalb Jahre in Algier zu überleben versucht hatte. Die beiden Männer fuhren – noch war Südfrankreich nicht besetzt – über Elna nach Colliure an die Sardinenbucht, zum letzten Hafen Frankreichs vor der spanischen Grenze, Port-Vendres, den Ludwig XIV. den Spaniern entrissen hatte, um seine Kriegsschiffe zu parken, nach Banyuls, dem wohl malerischsten Dörfchen an der Mittelmeerküste der Ostpyrenäen, dem Geburtsort des großen Bildhauers, Malers, Grafikers Aristide Maillol.
Hier wohnt auch der Flamenco-Gitarristen Pedro Soler, der an diesem Freitag 80 Jahre alt geworden ist und am Vorabend mit befreundeten Musikern in Palau-del-Vidre ein Konzert gab. Wenn Pedro, der virtuose Gitarren-Mann und Jean Pacalet, der virtuose Akkordeon-Mann, früher auf der Mas Joaquin in Banyuls gegen den Radau zirpwütiger Mittelmeer-Zikaten über Improvisation und freie Musik stritten, war es, als gäben sie ein Konzert mit Worten. Madeleine, Pedros Frau, holte eine weitere Köstlichkeit aus der Küche und Jean sagte trunkenes Zeug, wie: „Gute Musik wäre das, was dabei herauskäme, wenn man über das Leben nachzudenken in der Lage ist.“ Allerdings hatte er bei dieser Erkenntnis bereits zwei Flaschen des Banyulser Weins allein getrunken. Er konnte betrunken ohnehin besser spielen als streiten. Am 7. Juli ist er bereits sieben Jahre tot.

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IX. Dialog mit Gréco


veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 16./17.06. 2018

So sieht es also aus, wenn Artischocken – 500 Jahre vor Christi bereits auf dem Speiseplan unserer Vorfahren, im alten Rom sogar „Reichen-Nahrung“ genannt – ihre Artischocken-Köpfe recken. Ein Fußballfeld voller Puppen mit grünen und rötlichen Perücken, die sich mit synchronen Bewegungen gegen das schlechte Wetter hier in der Occitanie zu wehren scheinen. Das bekanntere Anbaugebiet dieser Gemüsedisteln in Frankreich ist – dem Golfstrom sei Dank – die Bretagne, wo sie „nez camus“, „Stupsnasen“ genannt werden.
Die Gemüse- und Obsternte ist in vollem Gange. Und schon kommen die „Selbstpflücker“ aus ihren Verstecken. Sie parken unter Obstbäumen, legen sich rücklings auf die Dächer ihrer Hippy-Bullis und lassen sich Aprikosen und Kirschen in die Münder wachsen. Die Farmer nehmen es mehr amüsiert als zornig.
Mein Freund Arndt, deutscher Kulturarbeiter in Montpellier en retraite, wäre der ideale Werbeträger für Schnellkochtopftgerichte. Der wohlgenährte Alles-in-einen-Topf-Experte ist ausgewiesener Karottenliebhaber. Karotten dürfen an keinem Gericht fehlen. Erstaunlich eigentlich, dass seine Familie nicht die karottinfarbene Haut von Babys annimmt, die mit Karottenbrei genährt wurden. Seine sanfte, schöne französische Frau ist noch im Schuldienst und fährt jeden Tag 100 km mit der französischen Bahn – d.h. wenn nicht gestreikt wird – zu ihrer Schule. Cathy ist die fille unique einer Bauernfamilie. Zu ihrem sechsten Geburtstag bekam sie ein Lämmchen geschenkt, das sie selbst mit der Flasche aufzog. Als sie eines Tages aus der Schule kam, war das Lämmchen nicht mehr da. Der Vater sagte, es wollte zu seiner Familie auf die Weide. Aber auf der Weide war das Lämmchen nicht. Am Sonntag darauf war Ostern. Es gab Lammbraten. Der Zusammenhang wäre ihr damals natürlich nicht aufgefallen. Aber der Schmerz des Verlustes eines geliebten Wesens hält bis heute an. Und vielleicht, wäre sie ja eben deshalb Lehrerin geworden. Ich liebe solche Geschichten und fühle mich den Menschen, die sie mir erzählten, verbunden.
Montpellier ist eine der größten Städte an der französischen Mittelmeerküste im Departement Hérault. Mit ihren Vororten kommt die Stadt mittlerweile auf 400.000 Einwohner. In den Jahren des Algerienkriegs (1962 – 68) flohen nicht wenige „Pieds noirs“, Schwarzfüße (so nennt man die Algerienfranzosen – nicht mehr unbedingt abwertend gemeint) von Nordafrika ins südfranzösische Montpellier. Die Stadt nimmt mit Beginn dieser Fluchtbewegung einen der vorderen Plätze im Bevölkerungswachstum ein. Nur 18,4 % der Bewohner sind über 60 Jahre. Was das für eine Stadt bedeutet, sieht und spürt man im Stadtbild. Auch ist Montpellier eine der größten Studentenstädte Frankreichs. Die Altstadt ist ein Labyrinth aus Gassen, Kneipen, Läden, Geschäften, Gerüchen, Menschen aller Herren Länder. Nahezu unglaublich ist das Top-Niveau der „Trompe l’oeil“ (perspektivisch gemalte Kulissen auf Häuserwänden, auch Augentäuschung genannt) Da ist schon mancher unkundige Besucher gegen Türen oder Wände gerannt, die es gemalt, nicht aber realiter gibt.
Arndt sagt: komm wir fahren ans Meer, zu den Flamingos. Nirgendwo in Südeuropa leben mehr Flamingos als in der Camargue. Ein pinkfarbener Rausch. Man schaut und staunt und denkt: Hier bin ich Flamingo, hier darf ich’s sein!
Arndt weiß alles über seine Wahlheimat, in der von Designern bemalte Straßenbahnen fahren. Eine Linie sieht aus wie ein riesiges Bassin mit Meerestieren. Und natürlich sollte diese Bahn eigentlich bis zum Meer fahren. Aber Bewohner und Bürgermeister von Palavas-les-Flots (etwa zehn Kilometer südlich von Montpellier gelegen) wehren sich gegen eine Endstation vor „ihrem“ Strand und insistieren seit Jahren medienträchtig. Sie wollen ihren schönen Ort vor zu viel „racaille“, Gesindel, aus Montpellier schützen, „das dann am Strand herumlungert, Autos knackt und Villen plündert“. Und so hält die Straßenbahn drei Kilometer vor dem Meer. Auch das ist Montpellier!
Eine der großen in Montpellier geborenen Persönlichkeiten ist die Grande Dame de la Chanson und Muse der Existenzialisten Juliette Gréco (geb. 1927)!!!
Auf Einladung des französischen Botschafters Claude Martin habe ich 2005 an einem Abendessen mit Juliette Gréco und ihrem Pianisten Gérard Jouannest in der Berliner Privatresidenz des Botschafters teilnehmen dürfen. Darüber entstand mein längstes Lied, „Souper mit Juliette“ (11 Minuten). Folgender realer Dialog hat Eingang in das Chanson gefunden:
Sie fragt mich auf einmal: „Sind Sie auch Künstlerin?“
„Oui Madame, je suis Chanteuse à Berlin. Allemagne orientale!“
Sie lacht: „Ob man vom Osten überhaupt noch reden kann?“
„Nun, Saint-Germain-des-Prés mit Sarte im Café, ist auch schon längst passé!“
„Ja, unsere vergangene Szene,
die prägte uns, Madame,
fast so wie unsere Gene,
sie schrieb uns ein Programm
von dem wir uns nicht trennen,
doch das wir ändern können…“

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X. Es steckt ein Lied in allen Dingen

veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 23./24.06.2018

„Protz-Klotz“, denkt die Berlinerin beim Anblick des monströsen Brunnens auf der „Place des Terreaux“ in Lyon, der heimlichen Hauptstadt Frankreichs. Zwischen dem Hôtel de Ville und dem Musée des Beaux Arts bäumen sich vier Wasser speiende Pferde mit dampfenden Nüstern auf, deren Zügel von einer barbusigen Schönen eher lasch als straff gehalten werden. „Die Flüsse führen zum Ozean“ heißt der Brunnen, der eigentlich für Bordeaux am Ozean gedacht war, der Stadt jedoch zu teuer kam. Der Skulpteur Fréderic Auguste Bartholdi war bereits ein reicher Mann, als sein Brunnen in Lyon zu sprudeln begann. Mit seinem Design der New Yorker Freiheitsstatue war er auf eine Goldmine gestoßen. Denn über den Globus verteilt stehen heute hunderte seiner – der römische Freiheitsgöttin Libertas nachempfundenen Fackelträgerinnen – „en miniature“ auf ihren Sockeln.
Lyon ist eine feine Dame unter den Europäischen Großstädten. Man nennt sie auch die Stadt des Lichtes. Wer einmal am Zusammenfluss von Saône und Rhône stand, ohne nach (s)einem Taschentuch zu greifen, war wahrscheinlich in einer anderen Stadt.
Beim Unterqueren des Bahnhofs gerate ich in eine Gruppe Fußballfans, die mich trikoloreschwenkend zum Bier einladen. Frankreich hat gerade 2:1 gegen Australien gewonnen. Als die Männer mitkriegen, dass ich Deutsche bin, lachen sie sich kaputt. Die Fahne darf ich behalten. Das mulmige Gefühl ob dieser Szene auch.
In der historischen Lyoner „Brasserie Georges“ hängt eine Verpflichtung: „Bonne Bière et bonne Chère“ (gutes Bier, gutes Fleisch). Und wirklich, das Essen ist exzellent! In einem Speisesaal von der Dimension einer großstädtischen Opera gibt es immer auch Geburtstagsgäste. Die Brasserie leistet sich einen stand by-Musiker, der außer „Happy birthday“ alle möglichen Musikwünsche erfüllt, wobei das ganze Restaurant beim ersten Ton die Bestecke sinken lässt, mitjohlt, klatscht, Glückwünsche ruft. Ein Prozedere, das sich je nach Auslastung der Brasserie alle zehn bis zwanzig Minuten wiederholt. Ein wirklich spezieller Restaurantbesuch.
Mir gegenüber sitzt die Lyoner Musikerin, Poetin, Sängerin, Michèle Bernard in eben dieser Brasserie. 1982 brachte mir mein Vater von einer Frankreichreise ihre Schallplatte „Le bar du grand désir“ (Die Bar der großen Begierde, Wünsche, Verlangen) mit. Die Platte stand über Jahre bei mir im Regal. Wirklich gehört habe ich sie erst Ende der Neunziger, als die ersten französischen Worte in meinem Kopf Platz genommen hatten und auch bereit waren aufzustehen, wenn ich sie brauchte.
Seitdem sind Michèle Bernards Chansons für mich so etwas wie Lebens-Mittel.
Wer ist diese Frau, die ihre erste Platte mit 20, 1967, veröffentlichte, in ihrer Oberschulzeit Dramatik-, Malerei- und Literatur- Kurse belegte, die früh begann, Theaterstücke für Kinder zu schreiben, in denen sie selbst mitspielte, die von ihrem Vater auf den Klavierhocker gehoben wurde, als sie noch nicht selbst hinaufkam. „Mit dem Theater habe ich mein Leben ge/erträumt,“ sagt sie, oder: „Das Chanson ist eine Art Jungbrunnen, den ich vermitteln möchte.“ Ihre permanente Suche nach künstlerischen Verbindungen der Genres Dramatik, Theater und Lied hat etwas Brecht’sches. Und schon deshalb unterscheidet sich die Bühnenperformance dieser komponierenden, singenden Poetin von anderen Chanson-à-texte-Chansonnièren in Frankreich.
Im Lyoner Kellertheater „A TOUT BOUT DE CHAMPS“, ein Wortspiel, das zu verstehen Franzosen vorbehalten bleibt, sah ich das aktuelle Programm „Un p’tit rêve très court“ (Ein kleiner kurzer Traum), das Michèle Bernard gemeinsam mit der Theater- und Filmschauspielerin Monique Brun erarbeitete. „Der kleine kurze Traum“, man ahnt es, ist der nach einer friedlichen Welt. Mit Michèles Liedern, selbst begleitet am Akkordeon und einem tiefen Griff ins Weltpoesie-Oeuvre verschiedener Epochen, entführen die beiden Frauen ihre Zuschauer für die Dauer einer Erdumrundung in die Schwerelosigkeit eines Welt-Draufblicks aus dem All. Dieser beeindruckt derart, dass nach der Landung minutenlang erst einmal niemand applaudiert und auch kein Zuschauer Anstalten macht, das Theater verlassen zu wollen.
Einer der Höhepunkte des Programms ist die Bühnenfassung eines Prosa-Textes der Kommunardin Louise Michel (1830-1905), vorgetragen von Monique Brun. Beim Absacker nach der Vorstellung, „nötige“ ich sie, mir den Text noch einmal zu Gehör zu bringen. Hier ein Ausschnitt:
… „Das Damoklesschwert hängt über den Köpfen der Staaten. Die Schulden fressen sie auf. Die Darlehen, die ihnen erlauben zu leben, sind erschöpft. Es ist vorbei: Die Segel aller Tabernakel sind zerrissen. Zusammengebrochen ein jeglicher Thron. Vorbei die Zierde einer illusorischen Würde. Alles, woran wir nicht glauben, ist tot.“
Am 9. Januar 1905 kamen 120.000 Menschen zu Louise Michels Beerdigung nach Marseille.
Michèle Bernards aktuelle CD „Tout‘ manières“ (Auf alle Fälle) hat – wie einige ihrer vorigen Tonträger auch – den GRAND PRIX ACADEMIE CHARLES CROS erhalten. (Die Akademie ist das französische Pendant zur National Academy of Recording Arts and Sciences in Los Angeles.)
Ehrungen wie diese können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die anmutigen, scharf blickenden und mahnenden Lieder Michèle Bernards, die die Dringlichkeit zu lieben und den verkehrten Lauf der Welt beschwören, Marge-Kunst sind. Die Ära des – wie die Franzosen sagen – Textchansons scheint mit dem Ableben ihrer bekanntesten Vertreter wie Jacques Brel, Georges Brassens, Léo Ferré, Charles Aznavour, Boris Vian, Georges Moustaki, Alain Leprest und u.a.m. zu Ende zu gehen.
Und wieder heißt es Abschied nehmen. Monique, Michèle und Elisabeth versuchen mir Proviant für die Weiterreise aufzunötigen. „Kinder, ich fahre doch nicht nach Skandinavien! Lyon – Paris, das sind nicht ganz 500 km. Bei den Strecken, die ich bis jetzt zurückgelegt habe, ein Klacks.“ Wie auf ein Stichwort fängt die „Sainte-Blandine“, Stadtpatriotin von Lyon, auf der gegenüberliegenden Straßenseite an zu läuten. Die stattliche Kirche trägt den Namen der frühchristlichen Märtyrerin und Heiligen, die laut Legende einst wilden Stieren zum Fraß vorgeworfen, jedoch von diesen verschmäht wurde.
Na, wenn das keine Versicherung für die letzte Station meiner dreimonatigen Frankreichreise ist?
Sie führt mich direkt ins dunkle Herz von Paris nach Barbès.

Der Abschied von Lyon fällt schwer.

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XI. Geputzte Gewehre | Barbara Thalheim erreicht Paris


veröffentlicht: ND Wochenendausgabe 30.06./01.07.2018

„Paris ist eine Messe wert“, Henri Quatres berühmter Ausspruch von 1589 erfährt 2018 seine Renaissance als Graffiti in der Rue Lepic in Montmartre.
Neben dem „Café Tabac des 2 Moulins“ hat sich ein Sprayer alle Mühe gegeben, den Königsspruch mit royalen Schnörkeln auf eine Hauswand zu bannen.
Das „Zwei Mühlen Café“ war 2001 einer der Drehorte des Films „Die fabelhafte Welt der Amélie“ von Jean-Pierre Jeunet. Durch den enormen Erfolg des Films ist die Kneipe mit Neonbeleuchtung und verschlissenem Interieur heute noch ein touristischer Wallfahrtsort. Direkt vor dem königlichen Spruch hat sich auf schmalem Pariser Trottoir eine Punkband aufgebaut. Heute ist Sommeranfang. Das bedeutet auch: „Fête de la musique“. Das honorarfreie Auftreten von internationalen Bands auf Straßen und Plätzen vieler europäischer Städte ist eine französische Erfindung aus den 80er Jahren. Die Band legt los. Ich bin gespannt. Ein wütender Anwohner brüllt und gestikuliert gegen den Lärm an. Dabei wischt er im Eisbett schlafende Austern von einem Verkaufstisch. Eine filmreife Szene! Typisch Montmartre! Aber verständlich, denn die Musik ist unerträglich. Hat eigentlich schon einmal jemand definiert, wann Musik aufhört und musikalische Umweltverschmutzung beginnt?
Der Reihe nach:
Ich fuhr von Lyon nach Paris zu Bernard und Julie ins 18. Arrondissement Barbès. Eine Gegend, in die sich nicht viele Touristen verirren. Sich in dem hoffnungslos verschlungenen Einbahnstraßengewirr um das Gässchen „De la Goutte-d’Or“, (Goldener Tropfen) nicht zu verfahren, ist nahezu unmöglich. Hier schlägt das dunkle Herz von Paris. Maghrebiner, Afrikaner, Asiaten, insgesamt 40 Nationalitäten und Ethnien leben unter teils unwürdigen Bedingungen.
Hier sieht man Dinge, von denen man wusste, dass es sie gibt. Aber sehen wollte man sie nicht.
Das angrenzende hippe Montmartre macht in Barbès immer wieder auf sich aufmerksam. Und zwar durch Sichtachsen auf eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt, Sacré-Coeur. Gut gelaunte Menschen erklimmen den „Mont in Martre“, um sich mit einem atemberaubenden Panorama auf eine der schönsten Städte der Welt zu belohnen.
Unterschiedlicher als Barbès und Montmartre können Stadtbezirke kaum sein. In Barbès wohnen 22.000 Menschen. „Exil-Afrika“, „Arabische Kasbah“, „Drogen- und Hurenquartier“ sagen die Pariser, die nicht hier wohnen.
An der Metro-Station Barbès-Rochechouart wogt ein Meer von Zigaretten-Verkäufern mit jeder einfahrenden Bahn den Aussteigenden entgegen. Einige Meter weiter auf dem Boulevard ist der Treff der Drogendealer, die sich keine Mühe mehr geben, ihre Geschäfte zu tarnen. Polizisten stehen mit geputzten Maschinengewehren unweit der Dealerplätze vor ihrem Revier, beobachten die Szene und signalisieren – ja, was eigentlich? Coolness? Abschreckung? Koexistenz?
In der Tiefgarage unter dem Supermarkt bemerke ich im Schummerlicht eine Großfamilie aus dem Maghreb, die sich in einer Wandnische des zweiten Untergeschosses eingerichtet hat. Für eine Nacht, ein Leben? Wer weiß es. Hier begegnet man Menschen, die zwischen die Welten geraten zu sein scheinen. Paris als Mythos? Nicht einmal mehr das!
Mitten im dieser Welt führt ein eisernes Tor zu dem Miniwohngebiet „Villa Poissonnière“, einer winzigen „Exklave“ von der Größe eines Fußballfeldes, mit kleinen Stadtvillen aus vergangenen Jahrhunderten. Ein Quartier im Quartier. Bis 1840 wurde hier noch Wein angebaut. Zu jedem Haus gehört ein Vorgarten mit Wildwuchs und behütetem Baumbestand.
Schon bei Eintritt ist der Schalter im Kopf umgelegt. Vögel zwitschern, Katzen wollen gestreichelt werden. Vor den Häusern sitzen ihre Bewohner mit Freunden, Kinder spielen, Lachen, ein Wasserkessel pfeift, ein Telefon klingelt. Der holperige Feldsteinweg zwischen den beiden Häuserzeilen hätte viel zu erzählen. Es gab ihn schon, als hier noch Postkutschen fuhren und Barbès vor den Toren Paris‘ lag. Aus einem der Häuser dringt klassischer Gesang. „Das ist unsere Gesangslehrerin von nebenan. Sie unterrichtet.“, erklärt mir Bernard. Ich stelle die Ohren auf Empfang und glaube Meryl Streep in ihrer Filmrolle als Florence Forster Jenkins zu hören und muss lachen.
In einem der Häuser wohnen die Filmemacher Bernard Mangiante und Julie Talon mit ihren drei Kindern. Zur Familie gehört auch Charly, eine frei laufende Schildkröte, die irgendwann „direkt aus dem Himmel“ in den Wäschekorb der Familie fiel. Nach ihrer Genesung mutierte sie zum Wachhund. Bellen kann sie nicht, aber ganz gemein in Füße zwicken.
Ich lernte Bernard 1990 während der Dreharbeiten zu dem Film „Inventur wegen Geschäftsaufgabe – letzter Sommer in der DDR“ kennen. Während der 70er und 80er Jahre lebte er in einer Westberliner WG. Er studierte Film und verschaffte sich die Grundlage für seine zweite Profession: Das Übersetzen von Drehbüchern. Z.B. sind die französischen Fassungen der Filme „Die Klavierspielerin“, „Das weiße Band“, „Wolfzeit“, „Code unbekannt“ von ihm. Gerade ist er aus Kuba zurückgekehrt. Wir schauen uns Impressionen an, die er in Havanna für einen weiteren Film seiner Kubareihe drehte.
Der Alltag der Pariser Familie ist stressig. Ich versuche mich einzubringen und spüre, dass die Eltern öfter, als sie es zugeben, am Limit sind. Zumal in den heißen Phasen der Dreharbeiten, oder wenn die Nächte dafür draufgehen, ein bereits angenommenes Exposé auf Wunsch der Auftraggeber wieder und wieder umzuschreiben.
Wir sitzen in der Pariser Abendsonne vorm Haus. Ich frage Julie, was sie vom momentanen Unisono der französischen Zeitungen hält, die, so scheint es, sich gerade auf ein Thema einzuschießen beginnen: Das vom Ehepaar Macron bestellte Prunkgeschirr für Staatsbankette im Wert von 500.000 €. Sie lacht. „Na, sollen sie ihr Geschirr bei Ikea bestellen?“ Jetzt lache ich. „Warum nicht?“ Sie hat Gespräche über den Lebensstandard des französischen Präsidenten satt und sagt: „Dieser Präsident macht genau das, was er angekündigt hat zu tun, wenn er zum Präsidenten gewählt wird. Worüber also beschweren sich die Franzosen, die ihn gewählt haben?“ 
Die junge Frau im Alter meiner Tochter ist mitten in der Arbeit zu ihrem neuen Film über Laienrichter, also Schöffen französischer Arbeitsgerichte. Morgen ist Drehtag und so ist sie – verständlicherweise – familienorganisationstechnisch nur halb bei der Sache.
2013 war ihr Film „Comme si de rien n’était“, (Als wäre nichts gewesen) über ihre an Alzheimer erkrankte Großmutter Rose, für den Prix Europa nominiert. Ich saß im Publikum, weinte und lachte, wie fast alle Zuschauer im Kinosaal der Berliner Masurenallee.
Für mich heißt es Abschied nehmen:
Zehn Tage Paris standen am Ende meiner dreimonatigen Frankreichreise von April bis Juni 2018.
Bernard begleitet mich bis fast zur Autobahn, damit sich die Berlinerin nach viereinhalb tausend Kilometern in Frankreich zum Schluss nicht noch auf dem Pariser Périphérique verirrt. In den 80er Jahren, als Berliner Filmstudent, hatte Bernard Mangiante mit seinem „deux chevaux“ (französische Ente) sogar einen Streckenrekord Berlin-Paris aufgestellt.
Ich überlege – wie immer beim Abschied von Frankreich – ob mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich – wie meine westdeutschen Freunde – schon mit 18 Jahren die Möglichkeit gehabt hätte, Frankreich, dieses wunderbare Land, kennen zu lernen.
Ein Abschied verleitet immer dazu, etwas zu sagen, zu denken, was man sonst nicht ausgesprochen hätte…. meint Michel de Montaigne, einer der Klügsten unter den Klugen Frankreichs.