Artikel vom 29.7.1996

Von Karl-Heinz Baum (Berlin)

„Dir hätten wir nie auch nur ein Wort angedeutet“. Die Liedermacherin Barbara Thalheim war Stasi-Zuträgerin, aber sie brachte nicht ihre Freundin in den Knast.

Als Barbara Thalheim auf den Bühnen des Maxim-Gorki-Theaters Berlin, des Volkstheaters Rostock, der Staatsoperette Dresden und anderen Brettern der neuen Länder 1994/95 ihr Lied „Aus dem Leben eines gefallenen Engels“ anstimmte, lachten die Zuschauer. Besonders laut lachten sie bei der Zeile: „… aber ich darf nicht sagen wie, ich habe unterschrieben.“

Daß da eine Künstlerin, die mit ihren Chansons erst in der DDR, seit 1978 auch im deutschen Westen auftritt, ein leises Eingeständnis ihrer Stasi-Vergangenheit ablegte, ahnten viele wohl. Weil sie es nicht glauben wollten, nahm es kaum einer zur Kenntnis. Für die Frankfurter Rundschau war der „gefallene Engel“ Anlaß, beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen einen Antrag zu stellen.

Szenenwechsel. Ein Mietshaus in Berlin im Sommer 1996. Auf der Treppe werden die Füße schwer. Noch einmal atmet Barbara Thalheim tief durch, dann drückt sie den Klingelknopf. Zwei Frauen stehen einander nach Jahren wieder gegenüber. Die Wege der Nachbarskinder, beide bald 50, trennten sich 1972. Die eine wurde wegen versuchter Republikflucht inhaftiert, verurteilt, nach vier Monaten Knast mit einer DDR-Amnestie entlassen. Sie durfte nach sechs Monaten zum Freund im Westteil Berlins.
Die andere, Thalheim, war dabei, eine bekannte DDR-Künstlerin zu werden. Der Tochter eines Kommunisten, der vier Jahre im NS-Konzentrationslager Dachau zubringen mußte, bis er 1945 fliehen konnte, standen in der DDR viele Türen offen. Als Sechzehnjährige hatte sie Stenotypistin gelernt, im Ministerrat der DDR im Sekretariat des späteren Ministerpräsidenten Willi Stoph. Doch die Facharbeiterin wollte Künstlerin werden, ging als Botin zum Deutschen Theater, war bald Dramaturgieassistentin im Erich Weinert-Ensemble, der Künstlertruppe der DDR-Armee. Sie studierte an der Fachschule für Unterhaltungskunst und der Hochschule für Musik, wurde Liedermacherin.

„Was gibt es, daß du hier vor der Tür stehst?“ Thalheim schluckt, sagt: „Ich war IM“, inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi. Die andere: „Wie, auch du? Für den Staat warste immer, aber für die Stasi arbeiten?“ Doch es kommt schlimmer. „In meiner Akte steht, ich soll zu deiner Inhaftierung beigetragen haben.“ Die Freundin wird blaß; das will sie nicht glauben. „Ihre Angaben trugen u. a. zur Inhaftierung (folgt ein geschwärzter Name, d. Red.) bei, die Vorbereitungen für das illegale Verlassen der DDR traf.“ So steht es im Abschlußbericht einer Stasi-Akte von über 300 Seiten, die „IM Elvira“ beurteilt und 1979 den Vorgang abschließt.

„Das kann nicht sein.“ Die Schulfreundin geht zum Schreibtisch, sucht die eigene Akte. Daraus weiß sie, wieso sie verhaftet und verurteilt wurde. Ihre vorbereitete Flucht über die Transitstrecke scheiterte: Das Auto kam nicht zum vereinbarten Treff. Tage später wagte sie einen neuen Versuch. Sie bat einen in der DDR studierenden Westeuropäer um den Freundschaftsdienst. „Ich dachte, einer aus dem Westen, der versteht das, der macht das.“ Sie täuschte sich. Der Student war Stasi-Zuträger, verriet den Plan.

In ihrer Akte liegt auch eine Zusammenfassung dessen, was eine „IM Bärbel“ damals, 1972, gesagt haben soll. Ein Textvergleich belegt: Es ist inhaltlich das gleiche, was nach einem Treffen mit „VIM Elvira“ („V“ heißt „Vorlauf“) verfaßt wurde. Von einem Fluchtplan steht da nichts, im Gegenteil. „Bärbel“ oder „Elvira“ erzählt vom Freund der Freundin. Wörtlich: „Bei diesem Zusammentreffen erklärte der (geschwärzt), daß er mit der (geschwärzt) zusammenbleiben will. Er möchte versuchen, nach beendetem Studium in die DDR überzusiedeln und zu heiraten.“

Die Freundin erinnert sich: „Ja, so haben wir dir das damals erzählt. Das geb ich schriftlich. Für mich warst du eine flammende Sozialistin; ich war, seit ich denken kann, immer gegen die DDR. Dir hätten wir nie auch nur ein Wort angedeutet.“ Es fehlt nicht viel, daß sich Täter und Opfer in den Armen liegen. Die eine froh, daß der Verdacht nicht wahr ist, die andere erleichtert, daß sie wenigstens nicht für die DDR-Haft eines Menschen mitverantwortlich ist.

Das macht Barbara Thalheims IM-Tätigkeit nicht ungeschehen. „Es kotzt mich an, was ich damals alles erzählt haben soll“, zieht sie Bilanz. Seit ein paar Wochen versucht sie, Abbitte zu leisten, trifft sich mit manchen, über die sie berichtete, etwa mit Bettina Wegener. Beide strotzten damals vor Ehrgeiz, jede wollte besser sein als die andere. „Elvira“ erzählt laut Treffbericht schon mal Abfälliges über die Konkurrentin. Abfälligkeiten reden viele über Dritte – nicht fein, aber menschlich. Der kleine, aber wichtige Unterschied ist: Sie sind keine IM.

In die Stasi-Falle tappte Thalheim, als 1971 ein Mitglied ihrer Gruppe im Klubhaus des DDR-Wachregiments wegen seines Barts nicht vor den glattgeschniegelten Parade-Soldaten der Stasi auftreten durfte. Sie beschwerte sich beim Chef Erich Mielke höchstselbst. Schon vorher, „bei der Durchsicht der Reisekartei der Verwaltung Groß-Berlin/Referat RT“ (RT heißt Reisetätigkeit) war sie aufgefallen: Die Eingabe kam gerade recht, zeigte sie als willfährige DDR-Bürgerin. Ein Jahr darauf, am 20. September 1972, unterschrieb sie die „Verpflichtungserklärung“: „Ich erkläre mich freiwillig zur Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR bereit. Durch diese Zusammenarbeit will ich einen Beitrag zur Sicherung der DDR und zur Erhaltung des Friedens leisten.“ Solche Texte wurden in der Regel vorgegeben.

Wie wird die Tochter eines NS-Opfers zum Täter in einer anderen Diktatur? Eine einfache Antwort hat sie nicht: „Ich war naiv, habe lange nicht hinterfragt, was um mich herum geschah. Für mich war die DDR-Welt heil.“ Ihre Chansons waren zunächst unpolitisch, auch wenn sie manch sozialen Mißstand aufs Korn nahm. „So wie ich als 14jährige das FDJ-Hemd anzog, so habe ich zehn Jahre später mit der Stasi geredet, aus falschem Pflichtbewußtsein und aus heute nicht mehr nachzuvollziehender Obrigkeitsgläubigkeit. Ich glaubte ihnen erklären zu können, wie es an der Basis zugeht.“

Mit der Politik hat sich Thalheim erst beschäftigt, sagt sie, als sich die Politik mit ihr beschäftigte. Das Datum läßt sich festmachen: Am 17. Dezember 1980 flog sie aus der SED, zwei Jahre nach dem Eintritt. Da war sie selbst schon im Fadenkreuz der Stasi; ihre OPK-Akte (Stasi-Kürzel für „Operative Personenkontrolle“) beginnt 1978. Ihr letztes Treffen fand laut Akten am 28. August 1979 statt. Dazwischen gab es immer mal Funkstille, da wollte sie wohl aussteigen, getan hat sie’s 1979, „damals, als ich erwachsen wurde“.
Die Akte „Elvira“ enthält so ziemlich alles, was zum miesen Krimi gehört: Mord, Vergewaltigung, Geschlechtskrankheiten; Sodomie kommt ins Spiel, immer wieder geplante Republikflucht. Ein Lied soll sie für die Stasi geschrieben und dafür Geld gegen Quittung (die Quittung ist nicht vorhanden) bekommen haben. Es steht in „Treffberichten“, die die Führungsoffiziere verfaßten. Außer der Verpflichtung gibt es nichts Handschriftliches von ihr. Manches aus ihren Erzählungen Festgehaltene bestreitet sie vehement, anderes leise, drittes gar nicht. Wenn freilich der schlimmste Vorwurf nicht stimmt, wie wahr sind dann andere Angaben?
Vor einem Jahr verabschiedete sie sich im Berliner Ensemble als Chansonsängerin. Da wollte sie sich öffentlich bekennen. Freunde, denen sie ihre Vergangenheit schon gebeichtet hatte, hofften darauf. Doch sie fand, ein solcher Schritt vor tausend Fans sei das Gegenteil von politischer Hygiene. An ein Fernsehporträt, Mitte 1995 produziert von arte und SFB, hängte sie ihr Eingeständnis; gesendet wurde der Beitrag bis heute nicht.