Porträt in Frage und Antwort

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20. Oktober 1990, Günter Gaus im Gespräch mit Barbara Thalheim

Barbara Thalheim, geboren 1948 in Leipzig, aufgewachsen in Berlin, ist eine der wichtigsten Liedermacherinnen in der ehemaligen DDR. Sie ist es aber auch in der ehemaligen Bundesrepublik gewesen, die jetzt um die DDR erweitert worden ist. Eine Liedermacherin, heftig umstritten zu Hause, heftig umstritten auch in der Bundesrepublik. Gelernte Stenotypistin, Sekretärin, Fachhochschule für Unterhaltungskunst, dann ein Studium an der Hochschule für Musik. Sie komponiert die Musik zu ihren Texten. Sie hat sieben Schallplatten gemacht. Sie hat im Mai 1989 den Kunstpreis der DDR erhalten. Aber sie hat auch ihre Schwierigkeiten, ihre ganz speziellen, mit dem verschwundenen Regime gehabt. Sehen Sie zur Person: Barbara Thalheim.

Sie haben vor vielen Jahren einmal gesagt, Frau Thalheim, Harmonie sei ein Zustand, der Sie lahme. Sie lebten aus dem Widerspruch und sie wüchsen mit dem Widerspruch. Jetzt sind Sie 42 Jahre alt. Gibt es inzwischen dann und wann doch einmal ein Harmoniebedürfnis, oder gilt unverändert die alte Selbsteinschätzung?

Ja, das habe ich gesagt als ein Mensch eines Staates, der nicht mehr existiert. Und für mich hat der Begriff Harmonie ’ne andere Bedeutung erfahren, als dieser Begriff es vielleicht jetzt hat. Harmonie war damals für mich ein sich Drein-Ergeben, ein Mit-Scheuklappen-Leben und ein Konfliktunbewußt-Leben. Und vielleicht kann man für Harmonie auch Konflikte-Suchen einsetzen. Ich denk schon, daß das heute noch ’ne Bedeutung hat. Im Privatleben bin ich sehr auf Harmonie bedacht. Im Leben mit Kollegen, in der Öffentlichkeit suche ich eigentlich den Konflikt.

Weil Sie selber sich dann besser erkennen, oder weil Sie streitsüchtig sind?

Vielleicht beides ein bißchen.

Sie singen politische Lieder, Sie singen Lieder über gesellschaftliche Zustände und über die Befindlichkeiten der Menschen in diesen Zuständen. Lieder, deren Texte oft auf Ihren Ideen, Erfahrungen, Einsichten beruhen und die dann Fritz Jochen Kopka, der Mann, mit dem Sie zusammenleben, der Vater Ihrer 17 und 10 Jahre alten Töchter, in Worte faßt. Sie komponieren die Musik dazu. Wie funktioniert eine solche Zusammenarbeit? Basiert sie auf einem vollen Einklang, muß man sich wechselseitig überzeugen, gibt es gelegentlich auch eine Unterwerfung des einen oder der einen?

Ich denke, daß eine Zweisamkeit, die sich auch in künstlerischer Produktion ausdrückt, immer zu tun hat mit Unterwerfung des einen oder des ändern, und habe eigentlich erfahren, daß das immer phasenweise funktioniert. Unter Unterwerfen verstehe ich ja auch, daß ich Gedanken als meine eigenen apostrophiere, die gar nicht meine ‚eigenen sind. Das passiert oft genug bei Texten von Fritz Jochen Kopka, die dann erst zu meinen eigenen werden. Diese Beziehung ist unheimlich konfliktgeladen, und die meiner Meinung nach wichtigsten Lieder unserer Zusammenarbeit sind eigentlich Ergebnisse intensiven Streits, ja.

Muß man so eng, so als Lebensgefährten miteinander leben, um eine solche künstlerische gemeinsame Produktivität zu erzielen?

Ich weiß nicht, ob man’s muß. Meine Erfahrung ist, daß es diese Form der Zusammenarbeit in dem mir bekannten Umfeld so nicht noch mal gibt. Wenn ich in den Liedern „Ich“ sage, bin ich gemeint. Das heißt also, jemand muß mich so tief erkennen, muß so intensiv in mich hineingucken, und das Hineingucken muß ich ihm ja irgendwie gestatten, muß ich ja irgendwie ermöglichen.

Das beißt, Sie sind ihm gegenüber ohne Reserve?

Ja.

Widerspricht das nicht eigentlich Ihrem Naturell?

Ja, sehr. Ich habe auch immer gedacht, daß man gerade als Frau in einer Zweisamkeit sich Reserven lassen muß, daß man viel von sich zurückhalten muß, um in bestimmten Situationen immer noch was aus dem Kasten zu ziehen, und hab eigentlich die Erfahrung gemacht in d i e s e r Zweisamkeit – in anderen ist es sicher anders -, je mehr man von sich preisgibt, desto größer ist auch die Qualität des Zusammenlebens.

Können Sie beschreiben, was Glück für Sie ausmacht? Was ist für Sie Glück?

Privates, gesellschaftliches?

Sie haben die Wahl. Beschreiben Sie beides.

Ja, privates Glück ist für mich eigentlich, eine Form zu suchen oder so eine Enklave zu haben, die keine Abgeschlossenheit bedeutet. Ich denke, daß Formen von familiärem Zusammenleben, wo die Tür, die nach draußen führt, nicht offensteht, von vornherein totgesagte Formationen sind. Und gesellschaftliches Glück heißt eigentlich für mich, in einer Gesellschaft zu leben, die ich kenne, die ich erkenne und die mich als Individuum ernst nimmt und akzeptiert, und in so ’ner Gesellschaft, wo ich das Gefühl habe, daß mein eingebrachtes Veto nicht ins Nichts abdriftet, sondern…

… beachtet wird.

…beachtet wird, ja.

Wir kommen ganz sicherlich auf politische Fragen im Zusammenhang mit der Liedermacherin Barbara Thalheim. Aber ich frag jetzt schon mal: Haben Sie jemals in einem solchen System gelebt? Früher oder jetzt?

Ich habe mir eigentlich vorgenommen, in diesem Gespräch relativ ehrlich zu sein, und ich muß da unterscheiden zwischen dem, was ich dachte in diesem System, und dem, was ich heute denke. Ich habe mir über fast anderthalb Jahrzehnte eingebildet, in einem solchen System zu leben. Das hatte mit der Politik der kleinen Schritte zu tun, das hatte damit zu tun… dieser Staat, dieses Land DDR funktionierte so, daß, wenn jemand aus meiner Zunft ein böses Lied gemacht hatte, saß eine halbe Nation auf dem Sofa und nahm übel. Und das kann man ganz leicht verwechseln mit Sich-Einbringen und mit Gehört-Werden. Daß es eine Verwechslung war, ist mir heute klar. Aber in der Zeit, in der ich hier gelebt habe, habe ich gedacht, daß es so wäre.

Was hat Ihnen die Augen geöffnet?

Die Augen hat mir geöffnet, daß ich eigentlich nur wenige Monate in einem Staat nach meinen Vorstellungen gelebt habe. Das waren die Monate von Oktober 89 bis März 90. Das war der Staat, für den ich mich gerne hingegeben hätte. Bis in die letzte Phase. Und daß ich jetzt in einem Staat lebe, in dem ich zwar vertauschte Lackbilder wiederfinde, die aber im Grunde genommen die andere Seite einer Münze darstellen. Die Münze ist dieselbe geblieben.

Was meinen Sie damit? Welche Münze ist dieselbe geblieben?

Ich meine damit, daß meine Möglichkeiten, mich einzubringen und zu bewirken – also mein Veto, meine Ängste zu formulieren, zu artikulieren -, genauso an einer Mauer haltmachen, die nicht mehr da ist. Also ich habe nicht das Gefühl, daß sich grundsätzliche Formen der Situation Individuum – Staat, dieser Situation des Gegenübertretens geändert hätten.

Ganz einfach gesagt: Die Zeit, die Sie beschrieben haben als die Zeit zwischen Oktober 89 und März 90 ist Basisdemokratie. Ist das richtig?

Ist richtig, ja.

Sind Sie ein politischer Mensch in dem Sinne, daß Sie ausgerichtet sind auf ein Ideal, eine Utopie, und halten Sie für möglich, daß dabei das pragmatische Verständnis für das Notwendige und das Machbare zu kurz kommt?

Das Gefühl der Ohnmacht, was uns beschlich in der alten DDR, das Gefühl der Ohnmacht hat sich eigentlich nicht geändert. Es ist eigentlich immer noch da. Dieses Gefühl der Ohnmacht war von uns genommen in einer Zeit, als wir annahmen, daß man Politik von unten nach oben und nicht von oben nach unten machen kann. Über diese Naivität kann man sich sicher auseinandersetzen, darüber, daß man sie im 20. Jahrhundert nicht mehr haben darf. Aber im Grunde genommen ist es so, daß diese Ohnmacht, die einen lahmt, sich zu entfalten als einzelnes Menschlein unter vielen Millionen Menschlein, daß sich diese Ohnmacht neu wiederhergestellt hat.

Wir werden dieses Thema mehrmals berühren. Aber jetzt gefragt: Nehmen Sie sich damit nicht zu wichtig, ist es nicht vielleicht so, daß die Mehrzahl der Menschen das Gefühl haben -und es wird ihr auch vermittelt -, ihre Ohnmacht sei nun beendet und sie seien jetzt freigesetzte, sich selbst bestimmende Menschen. Ist das ein Irrtum dieser Mehrheit, ist es ein gnädiger Irrtum oder ist das kein Irrtum und Sie, Barbara Thalheim, sind zu elitär?

Das Gefühl, einer Minderheit anzugehören, hatte ich in der DDR. Das Gefühl habe ich jetzt auch weiterhin. Daran hat sich nichts geändert. Daß man sich wichtig nimmt, daß ich mich als Barbara Thalheim wichtig nehme, hat vielleicht mit meinem Job zu tun. Das ist mein Beruf. Meine Befindlichkeit wichtig zu nehmen und sie zu artikulieren in der Hoffnung, daß abends vor mir Leute sitzen, die diese Befindlichkeit teilen. Das ist das Ergebnis oder die Situation eines Konzerts. Ich bin nicht der Meinung, daß die Menschen, die in diesem Lande leben und die in einer großen Mehrheit glauben, daß ihnen jetzt eine Freiheit geschenkt wurde, daß die zu verurteilen sind. Ich kann für mich in Anspruch nehmen, daß ich dieser Meinung nicht bin. Und ich möchte, daß diese meine Befindlichkeit auch von dem neuen Staat, in dem ich lebe, ernst genommen wird.

Sind Sie der Mehrheit gram, daß die Mehrheit denkt, sie sei jetzt besser dran?

Es ist viel verzwickter. Das wäre einfach. Ich bin mir gram, daß ich mich nicht zur Mehrheit fühlen kann, dazugehörig fühlen kann.

Das glaube ich Ihnen nicht.

Doch.

Sie haben einmal gesagt, habe ich nachgelesen bei der Vorbereitung auf dieses Interview, Sie seien immer, schon von Jugend auf, ohne daß das mit Hochmut gegenüber den anderen verbunden gewesen wäre, anders gewesen und seien es eigentlich ganz gern gewesen. Das widerspricht dem, was Sie eben gesagt haben, daß Sie sich gram sind, nicht zur Mehrheit zu gehören.

Ja, weil ich mich um ein Gefühl betrüge, um ein Gefühl der Trance, in dem sich viele Menschen befinden. 3.Oktober, Untern Linden oder so. Dieses Gefühl würd ich gerne einmal haben, würd’s gern einmal inhalieren dürfen. Aber dieses Problem, das Sie beschreiben, daß man also von Kindesbeinen an das Gefühl hat, schwer mit der Masse zu laufen, schwer in einem Pulk von Menschen gleiche Empfindungen zu entwickeln – das Gefühl habe ich wirklich. Und das kenne ich zu gut. Und wenn ich zurückdenke, bilde ich mir eigentlich heute ein, daß ich dieses Gefühl dahingehend kultiviert hab, daß ich es zu meinem Beruf gemacht habe. Aber es lebt sich trotzdem schwer damit. Es ist kokett – gebe ich zu -, zu sagen, ach wie schön ist es, daß ich mich da nicht so fühle. Aber es lebt sich schwer damit.

Ihr Vater, Jahrgang 1906, also jetzt 84 Jahre alt, ist als junger Mensch Kommunist geworden. Er mußte emigrieren, die Franzosen haben ihn an die deutsche Besatzungsmacht ausgeliefert. Er kam ins Konzentrationslager Dachau. Nach dem Krieg war er Kulturfunktionär in der DDR, schließlich Dramaturg bei Felsenstein an der Komischen Oper in Berlin. Im Alter lebte und lebt Ihr Vater ziemlich abseits. Wenn Sie heute nach allem, was gewesen ist, auf das Leben Ihres Vaters zurückblicken, auf all die Last und Qual – was besagt Ihnen ein solches Leben?

Erst einmal eine Achtung vor einer gewissen Aufrichtigkeit. Ich habe Ihnen ja mal erzählt, in meiner Schulzeit – da fing übrigens dieses Andersfühlen an -, als die Mitschüler befragt wurden, was denn ihre Eltern von 33 bis 45 gemacht haben, da war ich eben immer in der Situation, daß mein Vater einen anderen Lebenslauf hatte als ein Großteil der Väter meiner Generation. Und dieser Lebenslauf war mir irgendwo auch ’ne, ja, ’ne Last. Ich mußte mich ständig an ihm reiben und mußte artikulieren, wohin ich tendiere – gerade politisch. Und ich denke schon, daß es Achtung ist, daß es aber auch… kann man schwer erklären… also ein Gefühl des Vor-der-Geschichte-versagt-Habens ist, mit dem ich schwer umgehen kann.

Wer hat vor der Geschichte versagt?

Diese. Diese alten Kämpfer, die sich ein anderes Deutschland gewünscht haben.

Worin liegt das Versagen? Daß sie die Entartung des DDR-Systems nicht verhindert haben?

Ja, darin. Genau.

Ist das ein Vorwurf, den Sie Ihrem Vater machen?

Auch.

Wie lautet dann Ihr Selbstvorwurf? Sie waren ja auch schon erwachsen in der DDR.

Mein Selbstvorwurf geht an dem meines Vaters nicht vorüber. Der ist gegen mich genauso gerichtet. Gegen meine Generation.

Haben Sie kein Erbarmen mit diesen alten Kommunisten, denen ein Ideal aus den Händen gewunden worden ist?

Ja. Ich habe unheimliches Mitleid und eine ziemliche Achtung vor diesen Vitae. Ich weiß nicht, ob Erbarmen das richtige Wort wäre.

Sie sind, Frau Thalheim, 1980 aus der SED ausgeschlossen worden, weil Sie gegen ein Auftrittsverbot im Westen protestiert haben. Berichten Sie von diesem Parteiausschluß. Ich kenne die Geschichte, ich möcht sie noch einmal hören.

Ja, wie war das damals. Also, wir hatten damals, glaube ich, die erste größere Tournee in der Bundesrepublik und haben uns darauf monatelang vorbereitet. Und es gab also eine Künstleragentur der damaligen DDR, die solche Ausreisen ermöglichte, wo man also seine Stempel und Pässe herbekam. Und wir sollten am übernächsten Tag fahren, sage ich jetzt mal. Und Erich Honecker befand sich zu dieser Zeit bei einem Staatsbesuch in Österreich, und Kurt Hager hielt die bedeutende Rede mit dem Kernsatz: „Wir werden nicht die magere bundesrepublikanische Kulturlandschaft mit unseren Künstlern aufwerten.“ Über diesen Satz wurde in unseren Kreisen sehr gelacht. Und dann haben wir gedacht, das hat gar keine Nachwirkungen. Aber nach diesem Satz wurden sämtliche Ausreisen storniert. Und wir wären die nächsten gewesen, die dran waren. Und da habe ich eben in einem traurigen Frustmoment eine Kassette besprochen, die dann in den Westen ging und dort an die Medien verteilt wurde, was nicht meine Absicht war. Und als ich sehr deprimiert in meiner Wohnung saß, hielt ein großes schwarzes Auto, führte mich in das ZK zu Herrn Hager an einen großen Tisch, auf dem sämtliche Zeitungen der Bundesrepublik lagen, wo also der Wortlaut der von mir besprochenen Kassette abgedruckt war. Dann stand da auch Ursula Ragwitz, die damals zuständig war für Kultur im ZK. Eigentlich hätte diese Sache für mich das Ende bedeuten müssen. Und ich war sehr erstaunt, als sie mir sagte: „Und das bei deinen Eltern.“ Und ich habe mich geschämt für diese Aktion. Und erstaunlicherweise nicht geschämt dafür, daß vorhandene Verträge storniert werden und daß so ein Schwachsinn aus dem Mund eines ZK-Sekretärs durch die Presse kolportiert wird. Nee, ich habe mich geschämt für mein Verhalten. Das war überhaupt so ’ne Knacksituation in der damaligen DDR. Es ging unheimlich schnell, daß man sich für eigentlich logisches Verhalten schämte.

Warum haben Sie sich geschämt?

Ich habe mich geschämt, daß ich diesen doch meinen Staat in diese Situation bringe. Und daß jetzt Leute Rechtfertigungen artikulieren müssen, die eigentlich sie hätten artikulieren müssen, aber nach meinem Verständnis. Ich war ein Rädchen in diesem Getriebe. Und ich wollte diese Form von Öffentlichkeit nicht. Ich wollte sie mit meinen Liedern. Aber in dieser Form wollte ich sie nicht. Ja, und dann habe ich da wahnsinnig geheult, wenn ich mich richtig entsinne. Und dann hat sie mir ihr besticktes Taschentuch zugeschoben. Und das war eben auch die DDR. Nach drei Tagen sind wir dann gefahren.

Und kann es sein, daß dabei der Respekt vorm Lebenslauf Ihres Vaters mitgewirkt hat?

Ich denke doch, ja.

Bei einem anderen familiären Hintergrund wären Sie vielleicht nicht gefahren?

Bei einem anderen familiären Hintergrund wäre ich vielleicht nicht gefahren, und der Frust hätte mich zum Ausreiseantrag bewogen.

Haben Sie jemals erwogen, wenn Sie fahren konnten, und Sie konnten dann im Westen auftreten, nicht in die DDR zurückzukommen?

Nicht nur ich, sondern wir als ganze Formation haben’s oft erwogen.

Also Sie und Ihre Musikgruppe?

Ja, Wir haben sehr oft darüber diskutiert. Und im Endeffekt ging die Entscheidung immer pro DDR. Und zwar hatte das mit der Form des Einbringens hier zu tun. Es ist wirklich so: In diesem Staatsgefüge kannte ich mich aus und wußte, daß ein kleines Lied hier Dinge ausrichtet – da hat im Westen nie einer hingehört. Das interessierte die Leute nicht. Das war die politische Situation, die interessant war, wenn eine Gruppe aus dem Osten da auftrat. Aber das, was wir hier erlebt haben, gab’s in der Bundesrepublik nicht einmal.

Ich habe unter Ihren Liedern eines gefunden, das ich in diesem Zusammenhang wenigstens in einer Strophe zitieren will. Zitat aus einem Lied von Barbara Thalheim und Fritz Jochen Kopka: “ Wie kann man frei sein? Ohne den Schlaf der Meinen schlaf ich nicht ein. Wieder im selben Haus stehn, wo soll man denn sonst hingehn?“ Beschreibt das auch das, was Sie eben anders ausgedrückt haben? War es auch diese Heimatbindung ans Vertraute?

Ja, im vergangenen Jahr im März habe ich mir einmal eine Sache erlaubt. Ich bin für sechs Wochen auf einen südfranzösischen Bauernhof gegangen und habe dort gearbeitet als Bäuerin. Der Grund dieser Exkursion war: Ich wollte einmal des Gefühl der Emigration, das Gefühl des Heimwehs erleben, ganz stark. Und wollte für mich selber artikulieren: Was ist Heimweh? Ist es dieses Stückchen Land, sind es diese 20 engen Freunde, die man hat, ist es dieser Moment, auf der Bühne zu stehen und von Leuten gebraucht zu werden? Ist es der Augenblick, Lebenshilfe zu erfahren und vielleicht sogar zu geben mit dem, was man macht? Und ich hab’s immer nie fassen können. Und in diesen paar Wochen hab ich’s gefaßt. Ich habe gewußt, was das ist.

Was ist es?

Es ist von allem ein bißchen. Und es ist auch die Vertrautheit des Blues von Wittenberg und von Großräschen und Unterlungwitz. Das ist es auch.

Über die Elbe hinweg wird jetzt im vereinigten Deutschland gestritten über die Künstler, die Schriftsteller, wie etwa Christa Wolf, die in der DDR geblieben sind. Fühlen Sie sich von diesem Streit in irgendeiner Weise betroffen?

Sehr, ja.

In welcher Weise?

Ich glaube, daß es die Fortsetzung dieser Befindlichkeit ist, die uns alle momentan so ohnmächtig macht. Diese Okkupation der DDR – anders kann ich das nicht sehen – geht bis in die ganz tief ausgeloteten Gefühlsbereiche der Individuen. Mir wird also wirklich vorgeworfen, in diesem Land gelebt zu haben und mich für dieses Land engagiert zu haben. Und ich finde, diese Vorwürfe kann eigentlich jemand, der diesen Staat nicht erlebt hat, der ihn nicht aufgebaut oder in ihn hineingeboren wurde, diese Vorwürfe – ich finde es eigentlich geschmacklos. Diese Vorwürfe dürfen solche Leute uns gegenüber nicht an den Tag legen. Das darf nicht sein.

Warum nicht?

Weil ich mich in einen psychologisch-emotionalen Prozeß eigentlich nur dann einmischen kann, wenn ich ihn selber in der Tiefe erfahren oder begriffen habe. Und ich habe einfach das Gefühl, daß es grundsätzlich an der Sache vorbeigeht. Genauso wie ich das Gefühl habe, daß wir doch zwei verschiedene Sprachen entwickelt haben, daß man sich grundsätzlich permanent mißversteht. Daß man über bestimmte Befindlichkeiten redet, spricht, singt, schreibt, und ein anderer artikuliert oder zieht ein ganz anderes Substrat aus dem, was man gesagt und gedacht hat.

Aber die, die jene Künstler, jene Schriftsteller, die hiergeblieben sind, kritisieren und ihnen vorwerfen, sie seien trotz aller Schwierigkeiten, die sie auch gehabt hätten, dennoch ein Aushängeschild fürs Regime gewesen – diese Kritiker reklamieren für sich, man müßte nicht Napoleon gewesen sein, um über den Kaiser zu schreiben. Man müßte nicht ein entsprechendes Alter und eine entsprechende Erfahrung haben. Man könne vom Standpunkt einer festen Moral und einer festen Ethik Verhalten beurteilen, auch wenn man nicht unter den Umständen, in denen dieses Verhalten praktiziert wurde, gelebt hat. Ist das ganz falsch?

Nein, das ist nicht ganz falsch. Es ist nicht ganz falsch. Aber es ist auch nicht ganz falsch, daß Menschen, die in diesem Staate gelebt und sich eingebracht haben, mit ihrer Utopie gelebt haben, auf deutschem Boden ein anderes Deutschland zu schaffen. Das ist auch nicht falsch. Und ein Sich-in-diesem-Lande-Einbringen bedeutete nicht, bis in die letzte Faser mit allen Dingen konform zu laufen. Und das wissen die auch.

Vielleicht wissen sie’s wirklich nicht.

Das weiß ich nicht.

Ist es nach Ihrem Eindruck ein Wiederaufleben einer Dämonisierung des Kommunismus? Soll alles getilgt werden, steckt das dahinter?

Ja.

Wie werden Sie sich wehren?

Meine Position als Beobachter einer gesellschaftlich ziemlich fertigen Form wird sich nicht ändern. Ich werde mich wehren in der Form, in der ich mich in der alten DDR auch gewehrt habe. Es wird bloß ein anderes Wehren sein, weil mit anderen Konsequenzen verbunden. Mich hat ja die Literatur in diesem Land so unheimlich interessiert – wozu ich also bestimmte Lieder auch zähle -, weil man da Schichten abheben konnte, unter denen man immer noch einen Gedanken zur Sache vorfand. Es war selten pur. Es war immer gespickt mit Metaphern und so. Und so waren auch unsere Lieder. Und das werden wir abbauen müssen. Wir werden klarer sagen können, was wir meinen bzw. was wir nicht wollen.

Ist das wenigstens auch bei Ihrer Grundeinstellung eine Befreiung?

Ja, das ist eine Befreiung. Nicht nur das. Es gibt viele andere Befreiungen auch.

Beschreiben Sie sie.

Ich empfinde eine ganz starke Befreiung, durchatmen zu können. Ich habe das Gefühl, daß es Momente von Lust gibt, die ich vorher nicht kannte. Das meine ich jetzt gar nicht in dem Bereich, den man jetzt annehmen könnte, nämlich im erotischen, sondern ich habe irgendwie das Gefühl, daß so eine Weste, ein Panzer von einem genommen wurde. Und das macht Spaß, einfach sich auf diese Weise einzubringen. Außerdem denke ich, daß so ein Bruch, so ein Neuanfang, ’ne Neuorientierung eigentlich immer im Leben mit ganz großen Chancen auch verbunden ist. Also so sehe ich die schon. Ich hätte mir nur die Chance, die grundsätzliche Chance, anders gewünscht. Ich fühle mich in der Situation eines Menschen, der emigriert ist, aber noch in der selben Straße wohnt und im selben Haus. Und ich hätte mir gewünscht, daß von diesem Staat, von dem jetzt gar nichts mehr übrigbleiben soll, aber auch ü b e r h a u p t  n i c h t s  m e h r, Teile zurückbleiben, an denen ich mir einbilde eine Aktie zu haben.

Nun sagt man in der Diskussion der Intellektuellen im vereinigten Deutschland, es werde viel geredet, es sei früher noch mehr geredet worden von DDR-Identitäten, von Besonderheiten, die die Menschen entwickelt hätten. Aber möglicherweise waren es Besonderheiten, die aus der Not, aus der Mangelsituation resultierten. Und wenn der Mangel behoben ist, verlieren sich auch diese Besonderheiten. Wenn das aber so ist, was könnte dann überhaupt bewahrt bleiben?

Grundsätzlich finde ich Mangelsituationen im Leben eines Menschen nicht so sehr scheltenswert. Also ich denke doch, daß ein bestimmter Mangel gerade in der Zeit, in der wir leben, im 20.Jahrhundert, ’ne Konzentration auf andere Bereiche mit sich bringt. Und das war ’ne positive Seite in diesem Land. Es ist schon so, daß der Mangel uns zusammengeführt hat und daß es eine andere Form von Zusammenschluß und Kollektivität gab, als man sie im Westen weithin kannte. Bewahrt muß vielleicht bleiben eine Enklavensituation, die ja auch irgendwie ein Heimatgefühl war. Man hat sich – gerade wenn man dieses Land verlassen hat und irgendwo in dieser Welt war – als Vertreter einer ganz besonderen Spezies artikulieren müssen und auch gefühlt. Und es war ’ne ausgewogene Situation zwischen Scham und angenehmem Gefühl. Das lag genau dazwischen. Also die Anfeindungen, die ich zu ertragen hatte, weil ich DDR-Bürger war, irgendwo in der Schweiz oder in Finnland oder so, die waren genauso häufig wie auch die – ist vielleicht ein schlechtes Wort – aber wie die Hofierungen. Und diese Situation hat mich irgendwie ganz stark geprägt. Ich war nicht ein Bürger eines Staates unter vielen Staaten. Ich war ein Bürger eines Versuchsterritoriums.

Gegen dieses Lebensgefühl, das Sie jetzt beschrieben haben, können viele aus der ehemaligen DDR einwenden: Immerhin, die Barbara Thalheim war privilegiert, sie konnte reisen, wir konnten nicht reisen. Wenn ich versuchte, die Grenze zu überwinden, mußte ich mit dem Tode rechnen. Wenn ich den Mund zu sehr aufmachte, mußte ich mit Schikanen und Schlimmerem rechnen, da ich nicht privilegiert war durch Künstlertum. Verblaßt Ihre Wahrheit – ich sage ja nicht, daß es keine gewesen ist, die Wahrheit Ihres Lebensgefühls -, verblaßt Ihre Wahrheit vor dieser Wahrheit – die auch nicht die Wahrheit der Mehrheit im Land war, sondern wiederum einer Minderheit -, verblaßt Ihr Lebensgefühl vor dieser Notwahrheit so sehr, daß Sie sich gelegentlich genieren, es zu formulieren?

Nein. Eigentlich nicht. Sie erwarten sicher, daß ich mit Ja antworte, aber ich antworte… Ich weiß gar nicht… Ich antworte mit Nein, weil immer vergessen wird: Es war eine Hierarchie des Privilegiertseins in jeder Schicht – und die Privilegien, einen Paß zu haben oder keinen, die Privilegien, unter den Ladentisch zu greifen und eine Tüte mit irgendwas, was es nicht gibt, hochzuholen, die Privilegien, eine Autowerkstatt gegen was weiß ich einzutauschen oder so. Auf diese Weise funktionierte das gesamte Staatsgefüge. Und jeder hatte seine Privilegien in seinem Bereich. Und wenn es das Privileg war, Mitläufer zu sein oder sich rauszuhalten. Und deshalb bin ich gegen diese Anfeindungen: Ihr hattet einen Paß, und wir hatten keinen. Da bin ich immer ein bißchen allergisch, ich bin ja nicht als Urlauber in irgendein Land gereist, sondern ich habe dort mitunter bis wirklich an die Substanz gehenden Anfeindungen gegenübergestanden und mußte mich verteidigen als Bürger eines Staates, der in der weiten, großen Welt minderexistent war.

Nun sagt die Mehrheit im vereinigten Deutschland: Genau das hättest du nicht tun sollen, du hättest dich für den Staat schämen müssen.

Ich weiß nicht, also momentan besteht der Staat, der Ex-Staat wahrscheinlich ausschließlich aus Bürgern, die sich für diesen Staat geschämt haben. Ich muß das noch mal sagen, obwohl es mir wahrscheinlich keine Pluspunkte bringt: Ich habe mich für diesen Staat im seltensten Falle geschämt. Ich muß auch sagen, daß ich mitunter sehr, sehr gelacht habe hier. Und ich habe hier gelebt. Und leben heißt ja, daß man nicht rund um die Uhr das Gefüge Staat an sich ranläßt. Wie groß ist eigentlich der Raum, den der Staat im Leben eines einzelnen ausmachen darf. Ich seh’s ja an euch Bundesbürgern – ich muß das mal so sagen, ich tu mich so schwer damit -, doch ganz deutlich. Der Durchschnittsbürger in der Bundesrepublik läßt den Staat nur ganz bedingt an sich ran.

Das ist der Vorzug des Systems.

Ja, und warum hatten wir den nicht? Ich brauch mich doch nur umzugucken in dem Umfeld, in dem ich lebe, meine kleine Straße, mein kleiner Ort – da leben doch ganz viele Leute. Da war der Staat vor der Gartentür, und rein kam er nicht. Nicht mal in den Briefschlitz durfte der.

Man trifft in der ehemaligen DDR heute viele Widerstandskämpfer. Haben Sie menschlich Verständnis für diese rückwärts gerichtete Lebenslüge?

Nein.

Warum sind Sie da so ohne Verständnis? Sie haben so verständnisvolle Lieder für schwierige Situationen im Leben. Warum haben Sie nicht Verständnis dafür, daß heute viele Menschen, um sich wieder anzupassen, rückwärts gewandt es anders sehen, als es seinerzeit in der Gegenwart war? Es ist doch wiederum nur ein Akt der Anpassung. Warum haben Sie dafür nicht Verständnis?

Ich habe deshalb kein Verständnis, weil wir einen Akt der Anpassung gegen einen ändern Akt der Anpassung austauschen. Ich möchte eigentlich, daß diese meine Freunde und Bekannten, die in dem System der DDR zu seelischem, materiellem, persönlichem Schaden gekommen sind und teilweise vielleicht auch nicht mehr leben, daß diese Menschen einen Sinn in dieser Zeit der Repressalien sehen, indem sie den gesellschaftlichen Bruch als ein Vorangehen, ein Öffnen der Möglichkeiten verstehen. Und momentan spüre ich eben, daß dieses Sich-Anpassen in dem alten System von einer neuen Anpassung in dem neuen System abgelöst wird, daß da ein Tausch stattfindet. Und die Generation meiner Eltern war schon ’ne Generation, wo keiner in der NSDAP war und wo eigentlich alle nicht schuld, sondern Opfer dieses Systems waren. Und wenn jetzt meine Generation meint, auch nur Opfer eines Systems zu sein, das sie selbst gestaltet hat, dann gibt’s eigentlich kein Voran, dann gibt’s ’ne andere Form der Stagnation.

„Die Zeit der Stagnation“ ist der Titel eines neuen Liedes von Ihnen. Kann es einen anderen Menschen geben als den ganz alten Adam und die ganz alte Eva?

Nee, kann’s nicht geben.

Gut, was soll denn dann die Menschen verändern, wenn sie sich nicht selber verändern können, was soll sie voranbringen? Die Utopie, die sie hatten, hat sich als Illusion erwiesen.

Wobei das also ’ne vertrackte Sache ist. Ich meine, wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet, muß man ja sagen, daß sich Glaube, Liebe, Hoffnung eigentlich auch als Utopie erwiesen haben müßten, wenn man nicht die Tatsache, daß es so was gibt, als gegeben einfach hinstellt. Und wenn man nicht an eine gesellschaftliche Ordnung mit ’ner grundsätzlich anderen Verteilung von Mitteln glauben darf, dann hat man ja eigentlich überhaupt keine Chance, an Zukunft zu glauben.

In einem Rundfunktext aus jüngster Zeit haben Sie gesagt, ich zitiere: „Soll der Gedanke etwa sein, der Mensch muß die Ungewißheit auf sich nehmen als einen Vorzug und nicht als ein Unglück.“ Dazu habe ich zwei Fragen: Sind Sie zu dem Auf-sich-Nehmen dieser Ungewißheit bereit?

Ja, haben Sie den Eindruck nicht?

Und zweitens: Ist das nicht – und diesen Punkt haben wir schon ein paarmal in unserem Interview berührt -, ist das nicht eine Überforderung des gewöhnlichen, hinfälligen, schwachen Menschen, diese Ungewißheit auf sich zu nehmen?

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es den gewöhnlichen, hinfälligen, schwachen Menschen nicht gibt. Daß man, so sehr man in ein Einzelleben hineinblicken darf, hineingezogen wird, immer feststellt, daß der einzelne unheimliche Kraftreserven hat im Sich-Durchsetzen in gesellschaftlichen Prozessen.

Für sich, nicht für eine Gesellschaft.

Es gibt Momente, wo das zusammentrifft.

Bei einer Mehrheit?

Siehe Oktober, November 89.

War da die Mehrheit unterwegs, oder hat die sich erst später angeschlossen?

Also in dieser Zeit war im Land die Mehrheit unterwegs. Da bin ich mir sicher.

Sie und Ihre Musikgruppe bereiten eine neue Tournee vor, die noch im Dezember dieses Jahres ihre Premiere auf dem Gebiet der ehemaligen DDR haben soll. Sie haben davon gesprochen, was Lieder hier bedeutet haben, was es für das Publikum bedeutete, Literatur, Lieder, Theater als Ersatz, als Ventil für weithin gleichgeschaltete Öffentlichkeit. Was erwarten Sie von dem neuen Publikum? Sind Sie beklommen?

Ja, sehr. Ich bin deshalb beklommen, weil ich ziemlich genau weiß, daß in den Konzerten, die wir Ende vergangenen Jahres und Januar, Februar diesen Jahres gemacht haben, daß da genau in der Mitte das Splitting war zwischen denen, die eine andere DDR wollten, und denen, die keine DDR mehr wollten. Und die, die keine DDR mehr wollten, werden nicht mehr kommen. Und die, die eine andere DDR wollten, werden in einer persönlichen Situation sein, in der Lieder für die Selbstorientierung und die Selbstfindung und auch so als Lebenshilfe, was Lieder mitunter sein können, schwer helfen können. Und deshalb ist meine Situation, also wie das gehen wird, sehr vage und auch sehr hilflos.

Wird das ein bißchen mehr l’art pour l’art, wie so vieles im pluralistischen System?

Sicher.

Das neue Programm von Barbara Thalheim wird „Neues Deutschland“ heißen. Welche Themen bewegen das neue, das vereinigte Deutschland? Was meint Barbara Thalheim erkannt zu haben, das sie genug umtreibt, um es mit ihren Möglichkeiten ins öffentliche Bewußtsein zu heben, soweit das noch möglich ist.

Mit der Einschränkung, ja. Ich bin nicht der einzige Mensch in diesem Ostdeutschland, der sich wie gesagt als Emigrant fühlt und der sich übernommen fühlt in all den Punkten, der ganz gut gelebt hätte mit einer neuen deutschen Verfassung. Der Vorstellungen hat, wie bestimmte Dinge aus der alten DDR und Dinge aus der Bundesrepublik miteinander hätten eine Ehe eingehen können. Und ich denke, man sollte mal durchspielen, wie das wäre, wenn man aufwachte und sich in dem Deutschland befände, in dem man gern leben würde. Und die Reibung, die dann entsteht, die entsteht eigentlich zwangsläufig, weil das Deutschland, in dem man lebt, relativ entfernt ist von dem, in dem man gern leben würde. Und was dabei rauskommt, soll das Programm zeigen.

Wovor haben Sie die größte Angst?

Daß die Dinge, die jetzt rüberschwappen, dieser Anschluß, die Macht des schnellen Geldes, die Macht der Geschwindigkeit, überall hinzukönnen, wo man will, die Leute ablenkt vom eigenen Tun, und daß man glaubt, wenn man in einer Stadt wie Görlitz oder Anklam oder Greifswald lebt, daß andere Leute diese Stadt jetzt in Ordnung bringen und daß man das Seine nicht dazuzutun hätte. Und der Faktor der Ablenkung, wie intensiv eigentlich das eigene Zutun sein muß, um in diesem Teil Deutschlands diese Lasten, diese Altlasten zu verändern, darüber wird momentan eigentlich ziemlich geschwiegen. Und diese Vorstellung, daß der Fetisch Westgeld es schon richten wird, die macht mich eigentlich ohnmächtig, denn auch der größte Schein in der Tasche arbeitet nicht an den eigentlichen Dingen.

Die Frauen in der DDR haben es aus vielen Gründen schwer gehabt. Haben Sie es auch in mancher Hinsicht, so wie Sie es sehen, einfacher gehabt, als Sie es künftig haben werden?

Als Frau, als Person… Wobei ich dieses Splitting aber nicht mag. Ich bin immer davon ausgegangen, daß es eigentlich recht unerheblich ist, ob man nun Mann oder Frau ist. Im persönlichen Leben ist es manchmal sehr spannend. Aber im großen und ganzen habe ich mit dieser – auch Selbstdiskriminierung – meine Probleme. Ich denke, daß es wirklich so ist, daß ich’s bei allen Querelen mit diesem Staat DDR als Künstlerin mitunter sehr leicht hatte. Und zwar auch, weil mir die Auseinandersetzung mit der wirklichen Konkurrenz fehlte. Und da sehe ich die Zuwendungen des Staates DDR auch gegenüber ungewollten Künstlern als im Nachhinein sich als negativ auswirkend an.

Er hat Ihnen, Ihnen persönlich oder der Gruppe, nicht Ihrer Musikgruppe, sondern den Künstlern, eine Realität, eine Qualitätsrealität vorgegaukelt, die gar nicht real war?

Hm.

Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Träumen Sie immer noch vom Sozialismus?

Tja. Ja, ich träume noch. Ich träume davon, weil ich wie viele andere Menschen weiß, daß das, was wir in diesem Land erlebt haben, kein Sozialismus war. Ich träume davon, weil ich glaube, daß die Spanne zwischen der Gesellschaft, in der man wirklich lebt, und der, in der man leben möchte, genau diesen Bereich der Utopie ausmacht, die – wenn man sich sehr müht – vielleicht zu Kunst werden kann. Und ich glaube, daß ohne Zielvorstellungen, ohne Utopien, ohne einen Horizont, den es zu erreichen gilt – und wenn man an diesem Horizont steht, tut sich der nächste Horizont auf -, daß ohne diese Vorstellungen man eigentlich lebendig tot ist.